Das Umschlagbild ist bezeichnend: Es zeigt den in Schweden ansässigen deutschsprachigen Schriftsteller Peter Weiss und dessen Frau Gunilla Palmstierna-Weiss beim Empfang auf dem Rostocker Bahnhof durch den Intendanten des Volkstheaters Rostock, Hanns Anselm Perten, in der Reihe dahinter Manfred Haiduk, in den sechziger Jahren Dozent für Germanistik an der dortigen Universität. Haiduk war wie kein anderer an Peter Weiss’ Rezeption in der DDR beteiligt, an Inszenierungen, Buchveröffentlichungen und wissenschaftlicher Aufarbeitung. Die Rückwirkungen auf den Schriftsteller sind in vielen Selbstzeugnissen spürbar. Haiduk war fachlicher Berater und Biograph, er war Kenner der Werkgeschichte und ein verläßlicher Freund.
Alles begann mit Weiss’ Welterfolg, dem Theaterstück »Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade«. Das Stück war 1964 am (West-)Berliner Schillertheater uraufgeführt worden, trat von hier aus seinen Siegeszug an und erreichte auch den Rostocker Theatermann Perten. Der war angetan von dem totalen Bühnenspektakel. Andere Theaterleute in der DDR hatten das Stück als fatalistisch und sogar konterrevolutionär zurückgewiesen. Von Perten um ein Gutachten gebeten, setzte sich Haiduk nachdrücklich für eine Inszenierung ein, denn er hatte erkannt, daß das Stück im Kern keinesfalls einer marxistischen Interpretation widersprach. Also kam dann 1965 eine Aufführung zustande, die gleichzeitig eine Eintrittskarte für Peter Weiss in die DDR und deren Kultur- und Literaturbetrieb war.
Die Zusammenarbeit von Schriftsteller und Wissenschaftler verstärkte sich und trug Früchte bis zu Weiss’ Tod im Jahr 1982. Zum Beispiel hatte Haiduk wesentlichen Anteil an der nach vielen Querelen mit der Parteibürokratie endlich durchgesetzten Herausgabe des dreibändigen Romans »Die Ästhetik des Widerstands« in der DDR, er verfaßte auch das Nachwort.
Nun ist diese Zusammenarbeit über geografische und ideologische Grenzen hinaus mit dem Briefwechsel zwischen Weiss und Haiduk dokumentiert worden. Er rundet ein biografisches Bild ab, das wir jüngst schon durch den Briefwechsel zwischen Peter Weiss und dem Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld erhalten haben (Herausgeber: Rainer Gerlach) und auch durch die Korrespondenz des jungen Schriftstellers mit Hermann Hesse (herausgegeben von Beat Mazenauer und Volker Michels) und mit den Jugendfreunden Hermann Levin Goldschmidt und Robert Jungk (herausgegeben von Beat Mazenauer). Der Briefwechsel mit Haiduk aber ist etwas Besonderes, zeigt er doch wie keiner der anderen, wie sich Peter Weiss’ Weg vom nonkonformistischen Schriftsteller zum – wie er es selbst nennt –»rationalen Marxisten« vollzogen hat. Dafür hat man im Westen neben anderen Manfred Haiduk die »Schuld« gegeben: In Rostock habe der einst gefeierte Autor »sein Damaskus« erfahren.
Die »Westjournaille«, wie Haiduk sie konsequent nennt – hier merkt man, daß wir mitten im Kalten Krieg sind –, kippte in der Tat »Kübel von Schmutz« (Brief vom 3.11.65) über Weiss aus, verstärkt noch nach dem Dokumentarstück »Die Ermittlung« über den Auschwitzprozeß und den agitatorischen Stücken über Kriege in Afrika und Vietnam und schließlich dem offenen Bekenntnis zum Sozialismus. Das zog sich über all die Jahre hin, so daß Haiduk noch in seinem letzten Brief an den Autor vom April 1982 (Weiss starb im Mai) zusammenfassend erläutert: »Übrigens habe ich immer (…) behauptet, daß Rostock für Dich nicht schlechthin ein Damaskus gewesen ist, so wichtig sicher Eindrücke der Rostocker Inszenierungen gewesen sind. Ich bin immer davon ausgegangen, daß Mitte der sechziger Jahre für Dich eine Entwicklung einsetzte, die sich, wie aus dem Werk, aus den Tagbüchern usw. zu erschließen ist, seit Jahren vorbereitet hat.«
Weiss hat in mehreren Interviews hervorgehoben, daß die einzelnen Etappen des Weges, die sein namenloser Ich-Erzähler in der »Ästhetik des Widerstands« vom Betrachter zum Gesellschaftsanalytiker zurücklegt, zwar nicht mit seinem eigenen Leben identisch sind, aber schon viel früher, seit Beginn der Emigration, die er als Jude vollziehen mußte, im übertragenen Sinne in ihm angelegt waren. Gewiß hat Haiduk Peter Weiss nicht zum Marxisten erzogen, aber er hat ihn auf seinem Weg dorthin bestärkt.
Schwierig wurde es immer dann, wenn Weiss sich eine von den dogmatischen Festlegungen in der DDR oder in der Sowjetunion abweichende Meinung erlaubte. Dann war auch Haiduk in der Bredouille. So als Weiss sein Stück »Trotzki im Exil« veröffentlichte, als er gegen die Ausweisung von Wolf Biermann protestierte oder als er in der »Ästhetik« die sanktionierte Geschichtsschreibung in den sozialistischen Staaten anzweifelte. Wie sag ich’s meinem Kinde? Geben die Briefe, die Manfred Haiduk an Peter Weiss aus diesen Anlässen schrieb, immer seine wahre Meinung vollständig wieder? Er mußte ja davon ausgehen, daß die Post mitgelesen wurde (in meiner Stasi-Akte ist das Konvolut der kopierten Briefe das umfangreichste). Auch deshalb ist wohl an mehreren Stellen zu lesen, daß man »gewisse komplexe Dinge mündlich besser besprechen« könne.
Weiss zeigte Verständnis, wenn Haiduk ideologische Kritik an ihm übte, bezeichnete sie als »allzu sehr zeitbedingt und gewissen offiziellen Anschauungen unterworfen, zu denen du dich, dessen bin ich gewiß, einmal anders verhalten wirst«. Dieses Zitat ist einem Brief vom August 1970 entnommen, in dem der Schriftsteller auf die Monografie »Der Dramatiker Peter Weiss« von Manfred Haiduk reagiert. Er schreibt: »Eine großartige Arbeit, vollendet als Analyse, ich kann mir nicht denken, daß je was bessres über meine Versuche geschrieben werden kann.« Nach dem Trotzki-Eklat (das Mitglied der Akademie der Künste der DDR erhielt sogar ein Einreiseverbot) wurde das Ende 1969 druckfertige Buch allerdings nicht ausgeliefert. Erst Jahre später durfte es in der DDR erscheinen. Eine erweiterte Fassung enthält zusätzlich Bemerkungen zum Trotzki-Stück. Haiduk im Juni 1976: »Du kannst Dir denken, daß mir der Trotzki-Teil viel Mühe gemacht hat. Er bleibt unbefriedigend.«
Allein diesen zwei Sätzen ist zu entnehmen, welchen Belastungen das Verhältnis auch ausgesetzt sein konnte. Gunilla Palmstierna-Weiss schreibt in ihrem Geleitwort: »Natürlich gab es auch schwierige Phasen in dieser Freundschaft, daß sie nicht zerbrach, ist bewundernswert. Andererseits haben beide auch viel dafür getan.«
Der Briefband enthält einige Aufsätze von Manfred Haiduk, von denen besonders die zur »Ästhetik des Widerstands« interessant sind. Dokumentieren sie doch, wie eng die Zusammenarbeit gerade bei diesem Werk war und welche Hürden es vor der Veröffentlichung in der DDR zu nehmen galt.
Der letzte Satz dieser fundierten, mit Register, Werkverzeichnis Haiduk und ausführlichen Fußnoten versehenen Edition der Herausgeber Rainer Gerlach und Jürgen Schutte stimmt allerdings nachdenklich und sollte als Gesprächsangebot verstanden werden. Er lautet: »Wir bedauern, daß das für diese Ausgabe geschriebene Nachwort wegen unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten zwischen den Herausgebern und Manfred Haiduk nicht in dieser Ausgabe abgedruckt werden konnte.« Liest man in den beigefügten Aufsätzen Haiduks, bekommt man einen Eindruck davon, welchen Kränkungen und Ehrabschneidungen Wissenschaftler von DDR-Universitäten – und durchaus nicht nur sogenannte Gesellschaftswissenschaftler – in den beiden letzten Jahrzehnten ausgesetzt waren, eine Erklärung vielleicht für leichte Verletzbarkeit. Insofern erhält der Titel des Bandes »Diesseits und jenseits der Grenze« unwillkürlich einen ironischen Unterton. Der Briefschreiber (Ost) und die Herausgeber (West), beide Seiten in tiefer Sympathie zu einer großen literarischen Persönlichkeit vereint, konnten zusammen nicht kommen. Der Graben ist immer noch tief.
Rainer Gerlach und Jürgen Schutte (Hg.): »Diesseits und jenseits der Grenze. Peter Weiss – Manfred Haiduk. Der Briefwechsel 1965–1982«, Röhrig Universitätsverlag, 297 Seiten, 38 €