Altona ist allgemein bekannt. Joachim Ringelnatz wußte über zwei Ameisen, die nach Australien reisen wollten, zu berichten: »Bei Altona auf der Chaussee / da taten ihnen die Beine weh«. In den letzten beiden Jahren beschäftigte die Altonaer jedoch ein anderes Thema: das Projekt »Mitte Altona«. Seit der Amtszeit Ole von Beusts ist die Floskel »Hamburg – wachsende Stadt« in aller Munde. Die Frage ist nur: Wie und wohin soll diese Großstadt noch wachsen? Eine Möglichkeit der Problemlösung – und der eigentliche Skandal – ist das Angebot der privatisierten Deutschen Bahn. 1994 wurde die Bahn zu einer Aktiengesellschaft – und damit war die formaljuristische Privatisierung vollzogen. Ein folgenreicher Schritt.
Wie in Stuttgart geht es auch in Hamburg um Immobilien der Deutschen Bahn, mit dem Unterschied, daß dieses Thema in Stuttgart von den entscheidenden Befürwortern verschleiert wird, während es in Altona unübersehbar im Vordergrund steht. Bahngelände, auf dem sich derzeit noch Gleise befinden, soll im Zusammenhang mit vagen Plänen der Bahn, den Fernbahnhof Hamburg-Altona zur kleinen Station Hamburg-Diebsteich (die selbst manche Hamburger nicht kennen) zu verlegen, zum Bau einer neuen Siedlung mit einigen Tausend Wohneinheiten genutzt werden.
Der Skandal: Die private Aktiengesellschaft Bahn versilbert ehemaliges öffentliches Eigentum – Immobilien, die ihr vor vielen Jahrzehnten zum Betreiben von Schienenverkehr übereignet worden waren. Die Einzelheiten – die Gründungen von Tochtergesellschaften und Verschachtelungen, die Verkaufsvorgänge (sowohl interne als auch solche mit externen Immobilienfirmen, die inzwischen Namen wie Aurelis, ECE und Panta 112 ins Spiel gebracht haben) – seien hier der Übersichtlichkeit halber außen vor gelassen; hier mag zum Beispiel Wikipedia ein allfälliges Informationsbedürfnis befriedigen.
Festzuhalten bleibt: Die Stadt Hamburg besitzt von dem ins Auge gefaßten Baugelände keinen einzigen Quadratmeter.
Wer sind nun die Akteure der Auseinandersetzungen um das Projekt »Mitte Altona«? Da steht an erster Stelle die Deutsche Bahn – allerdings nur, was ihre materielle Rolle anbelangt; ansonsten gibt sie sich eher als Sphinx; man mag sie befragen, wie man will – sie hüllt sich in wichtigen Punkten in Schweigen. Das betrifft vor allem die geplante Verlagerung des Bahnhofs Hamburg-Altona, der man inzwischen schon das Attribut »angeblich« voranstellen kann. Zwar wird immer mal wieder ein voraussichtliches Datum genannt, doch bestätigt ist bisher keines. Damit steht zugleich in Frage, ob von dem geplanten Projekt nur der erste oder auch der zweite Bauabschnitt realisiert werden wird. Sollte letzteres nicht der Fall sein, müßten sich die Bewohner mit einer »Quietschkurve« arrangieren, die ihr Wohngebiet begrenzen würde, aber das wäre sicher das geringste Übel.
Viel gravierender sind die Probleme, die der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt (BSU) aus dem sphinxhaften Schweigen der Bahn erwachsen: Sie muß die Eventualität der Entwicklung bändigen. Doch die BSU gleicht einem Koloß auf tönernen Füßen. Sie umfaßt einen großen Apparat, der nicht nur das Bauwesen und die Stadtplanung, sondern zum Beispiel auch den Denkmalschutz einbezieht, ist aber gegenüber der Bahn in die Rolle eines Bittstellers, zumindest aber in die eines weitgehend auf Konsens angewiesenen Verhandlungspartners gedrängt. Dieselbe Rolle muß sie bis auf Weiteres auch gegenüber den Investoren spielen. Zwar hat die Stadt Hamburg umfangreiche Möglichkeiten, ihre Wünsche durchzusetzen, die im Extremfall bis zur Enteignung der Investoren mit anschließendem Kauf des Geländes durch die Stadt reichen. Doch diese Möglichkeit ist im Grunde nur ein stumpfes Schwert, da sie schwer absehbare finanzielle Konsequenzen für die Stadt hätte. Nicht zuletzt ist sie durch die wirtschaftsfreundliche Haltung jeder Hamburger Regierung eingegrenzt. In der Realität wird die Stadt den Investoren eine Minimallösung in wohnungspolitischer Hinsicht abzuverhandeln versuchen.
Die Rolle der Investoren ist einfach zu beschreiben: Ihr Interesse ist der Profit. Nur wo es unumgänglich ist, sind sie bereit, Abstriche an diesem Ziel zuzulassen. Am liebsten wäre es ihnen, wenn sie nur »hochwertige«, gemeint sind hochpreisige Eigentumswohnungen bauen lassen könnten. Dem kann Hamburg nicht zustimmen. Der noch in Entwicklung befindliche Masterplan sieht einen sogenannten Drittelmix aus öffentlich gefördertem Wohnungsbau, freiem Wohnungsbau sowie dem Bau von Eigentumswohnungen vor. Allerdings ist die Verhandlungsposition der Stadt, mit der sich die Investoren auseinanderzusetzen haben, nicht statisch, sondern sie hängt auch vom Einfluß ab, den die interessierte Öffentlichkeit auf das gesamte Verfahren nimmt. Die Hanseaten, um einen weiteren Konfliktpunkt zu nennen, sind daran interessiert, daß möglichst ausgedehnte Grünflächen entstehen, die in Altona bisher einen geringen Flächenanteil ausmachen. Daran haben die Investoren aus ökonomischen Gründen wenig Interesse.
Im Verfahren um Stuttgart 21 bemängelte die Stuttgarter Bevölkerung besonders die zu geringen und zu späten »Mitspracherechte«. Welche Möglichkeiten bieten Politik und Verwaltung (vor allem in Gestalt der BSU und der Bezirksversammlung Altona) nun der interessierten Hamburger Öffentlichkeit, sich an der Diskussion um das Projekt »Mitte Altona« zu beteiligen?
Zunächst scheinbar große: Es gibt Veranstaltungsformen in einer – zumindest sprachlichen – Vielfalt, die Außenstehende erstaunen muß. Die Stadt bot Rundgänge auf dem potentiellen Baugelände an; seit anderthalb Jahren veranstaltet sie »Bürgerforen«, auf denen der Stand der Planung dargestellt wird, außerdem »Interessentenkreise« – Abende, an denen jeweils ein bestimmter, vorher angekündigter Teilaspekt (zum Beispiel Verkehrsplanung, finanzielle Fragen, städteplanerische Gestaltung) behandelt wird; hinzu kommen Workshops von zum Teil ganztägiger Dauer. Neuerdings gibt es ein gewähltes, aus 18 Personen bestehendes »Bürgergremium«. (Bitte nicht mit dem »Bürgerforum« verwechseln! Honi soit qui pense, daß die BSU hier irgendjemanden in Verwirrung stürzen möchte.) Die von der BSU eigens herausgegebene Zeitung vermerkt hierzu: »Dabei sollen die folgenden Gruppierungen mit jeweils drei Mitgliedern vertreten sein: direkte Anwohner, Gewerbetreibende, Baugemeinschaften, soziale und kulturelle Einrichtungen aus dem Umfeld, Vertreter von Initiativen, sonstige Projektinteressierte. Jeweils zwei Mitglieder werden gewählt, das dritte Mitglied soll per Los bestimmt werden.« Wer im Hintergrund den Amtsschimmel wiehern hört, irrt in diesem Falle: Die genauen Maßgaben sind Resultat von Forderungen, die von Bürgern auf den genannten Veranstaltungen erhoben und von der BSU zusammengefaßt worden sind. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei als letzte Möglichkeit für die interessierte Öffentlichkeit noch das »Infozentrum« mit festen Öffnungszeiten und einer »Bürgersprechzeit« erwähnt.
Auffällig oft tauchen unter den erwähnten Spezialausdrücken Zusammensetzungen mit dem Wort »Bürger« auf. Eine Ursache für deren Häufigkeit liegt im Wirken der in den Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 vielfach als »Wutbürger« bezeichneten Personengruppe. Die sonst eher lahme Springer-Zeitung Hamburger Abendblatt hatte die Überschrift ihres Artikels zu »Mitte Altona« ausnahmsweise treffsicher gewählt: »Bauprojekt Neue Mitte Altona: Die Angst der Planer vor der 21 / Wie in Stuttgart soll der Bahnhof auch in Altona verlegt werden. Die Stadt Hamburg versucht, die Konflikte im Vorfeld zu entschärfen.« Aus eigener Anschauung kann ich ergänzen: Als ich während eines Rundgangs mit einem Mitarbeiter des Bezirksamts Altona ins Gespräch kam, bestätigte er mir auf Nachfrage, daß das Thema Stuttgart 21 im Denken und Handeln seiner Behörde durchaus eine erwähnenswerte Rolle spielt.
Die Absicht der Planer, »Konflikte im Vorfeld zu entschärfen«, dürfte aus verschiedenen Gründen schwer zu verwirklichen sein; die Zusammensetzung der interessierten Öffentlichkeit erleichtert diese Realisierung nicht gerade. Zunächst sind da die Bürgerinitiativen: »Altopia«, »Lux & Konsorten«, »Gleis A« arbeiten unmittelbar zum Thema; daneben gibt es noch andere, schon länger existierende, deren Arbeit durch die Planungen zu »Mitte Altona« berührt wird. Dann kommen zu den Veranstaltungen nicht organisierte Personen. Im Zweifelsfall dürfte die Übung im öffentlichen Auftreten bei Personen aus der ersten größer sein als bei solchen der zweiten Gruppe. Die inhaltlichen Interessen lassen sich zumindest so unterscheiden, daß Personen, die an einer Eigentumswohnung oder an frei finanziertem Wohnraum interessiert sind, sich nicht in einer der genannten BIs organisieren werden.
Außerdem werden auf den Versammlungen partielle Interessen geäußert von Gruppen, die im Zusammenhang mit der offiziellen Definition des neu geschaffenen »Bürgergremiums« genannt wurden: So befürchten Gewerbetreibende, die zur Zeit Immobilien nutzen, die in das Projekt »Mitte Altona« integriert werden sollen, daß sie sich in Zukunft die Gewerbemieten nicht mehr leisten können. Anwohner fürchten die Zunahme des Autoverkehrs, unter dessen Auswirkungen sie schon jetzt, leiden. Die Beispiele ließen sich vermehren.
Die BSU hat »Bürgerforderungen« gesammelt und publiziert. Typischerweise ist im Kontext von »Mitte Altona« ein solcher Schritt, der eine Übertragung von der direkten in die formale Ebene beinhaltet, von inhaltlich begründetem Mißtrauen begleitet, was aber nicht heißen muß, daß die Mitarbeiter der BSU mit gezinkten Karten spielen. Ihr Interesse muß es ja sein, Vertrauen bei der interessierten Öffentlichkeit zu schaffen. Der Aufwand, der in dieser Hinsicht betrieben worden ist, ist bereits angedeutet worden und könnte noch untermalt werden, zum Beispiel indem auf die wissenschaftliche Begleitung eingegangen würde. Die Mühe der Behördenmitarbeiter scheint mir jedoch weitgehend vergeblich zu sein, da die Konstellation der Kräfte Mißtrauen schüren muß: eine Stadt, die nicht das fragliche Bauland besitzt; Investoren, die nur nachgeben, wenn andernfalls der Schaden größer wäre; eine Deutsche Bahn, die sich auch dann nicht äußert, wenn sie unter Druck gerät.
Dabei fehlt noch eine wichtige Kraft, die bisher weitgehend ausgespart worden ist, die aber letztlich alle Erfolge, die auf anderen Ebenen erzielt worden sein mögen, in Frage stellen kann: nämlich die politische Ebene. Sie ist aus nachvollziehbaren Gründen – die Planung muß schon bis zu einem gewissen Punkt gediehen sein, darf aber noch keine unwiderruflichen Fakten geschaffen haben – erst seit kurzem auf den Veranstaltungen erschienen, aber ihr Handeln kann alle Erfolge bei der Erarbeitung eines Vertrauensbonus bei den Bürgern schnell zunichte machen. So wird sicher bald die Beteuerung der Verwaltung und ihrer Fachleute, die Planung sei ergebnisoffen, mit der rauhen Wirklichkeit der Politik zusammenstoßen, die von Sachzwängen sprechen wird.
Daß dieses Vertrauen bereits auf wackeligen Füßen steht, deutet der Titel einer Veranstaltung an, mit der die Gruppe »Lux & Konsorten« das vergangene Jahr beschloß: »Von wegen Neue Mitte – Gegenplanung Altona«. Ob dieses Vertrauen je geschaffen werden wird, darf bezweifelt werden. Im Zeitalter der Politikerverdrossenheit könnte der alte Satz aus einer Kaffeewerbung eine aktuelle Bedeutung erhalten: »Mühe allein genügt nicht.«