Unübersehbar droht sie, schon von der gefrorenen Alster her, die Riesenspinne – über neun Meter hoch – zwischen Kunsthalle und Galerie der Gegenwart. Die 88jährige Louise Bourgeois schuf sie 1999 und nannte ihr Geschöpf: »Maman«. Für sie hatten Spinnen nichts Furchterregendes. Diese »Mutter«-Spinne trägt in einem Metallkorb zwanzig Eier aus weißem Marmor unter ihrem Leib. Ihre gewaltigen Bronzeglieder locken in die Hamburger Ausstellung »Passage dangereux« (noch bis zum 17. Juni 2012).
Dunkel, geheimnisvoll, wie ein Bühnenbild erscheint der Innenraum des Museums, Metallkäfige, die miteinander verbunden sind, über acht Meter lang. Betreten lassen sie sich nicht. Dieser gefährliche Weg, der ein Menschenleben symbolisiert, kann von außen nachvollzogen werden. Die Künstlerin gab ihrer Installation der Erinnerungen 1997 die endgültige Form. Nicht wilde Tiere, Dinge sind dort eingesperrt, hängen von der Decke, stehen in engen Draht-Verliesen. Eine Kinderschaukel, fast daneben ein Folterstuhl wie aus dem Mittelalter. Aus Holz eine Schulbank mit klappbarem Tisch, alles sehr eng. Spiegel beziehen den Betrachter als Voyeur mit ein. Licht fällt auf Reste von alten Tapisserien und Knochen. Von der Decke hängt irritierend eine Beinprothese. Wer keinen Katalog hat (94 Seiten, 17,80 Euro), fühlt sich nicht nur hier allein gelassen, es fehlt Information. Die Prothese gehörte einer Nachbarin der Künstlerin in Brooklyn. Louise Bourgeois fand sie nach deren Tod im Hof.
Louise Bourgeois wurde 1911 in Paris geboren. Ihre Eltern betrieben eine Galerie und eine Restaurierungswerkstatt für Bildteppiche. Schon in jungen Jahren half Louise dort und zeichnete Entwürfe. Sie hatte zwei jüngere Geschwister. In der Familie lebte die 18jährige englische Gouvernante Sadie, die Geliebte des Vaters wurde. Die Mutter wußte es und litt darunter – so wie Louise. Später nannte sie diese unerträgliche Situation Kindesmißbrauch – seelischen. In den Käfigen der Erinnerung hängen alte Stühle von der Decke und beobachten, was unten geschieht. Da steht ein Bett, darauf zwei Paar Füße, an Metallstangen. Es geschieht ein Akt.
Irgendwo ist immer eine kleine Spinne dabei, die zusieht, stumm.
Die Mutter-Spinne ist für die Künstlerin die Frau, die alles wiederherstellt, zusammenfügt, was auseinanderfällt, die Restauratorin des Lebens. Wie eine Spinne, die ihr Netz geduldig immer neu errichtet. Louise Bourgeois‘ Mutter war Weberin. In einem separaten Käfig sitzt eine kleine weiße Figur auf einer Holzbank. Ihre Haut ist Stoff, die Arme fehlen, und die Beine erreichen nicht den Boden. Ein Kind? Es kauert, nach vorn gebeugt wie unter Schmerzen, so daß sein Gesicht nicht zu sehen ist. Dann die 2003 erschaffene Installation »Lady in Waiting«: Der Zuschauer blickt durch ein Fenster wie in ein Wohnzimmer. Auf einem gepolsterten Sessel sitzt eine winzige Frau. Sie verschmilzt fast mit dem Muster des Sessels, wird zu einem Teil des Hausrats, eine Domestikin. Aber sie besitzt Spinnenarme, Fäden laufen aus ihrem Mund zu Garnrollen auf dem Fensterbrett. »Lady in Waiting« bedeutet auch Kammerfrau.
Für die Künstlerin sind Kleider Wegmarken auf der Suche nach der Vergangenheit. Und so entstehen Skulpturen und Bücher wie die »Ode an das Vergessen« aus Stoffresten ihres Lebens, ein visuelles Gedicht. Selbst mit ihrem Monogramm verzierte Servietten aus der Aussteuer dienen als Untergrund. Diese Programmierung, die Mädchen wehrlos machte.
1938 hatte Louise Bourgeois in Paris den amerikanischen Kunsthistoriker Robert Goldwater kennengelernt. Sie heiraten und gehen nach New York, wo Louise viele Künstler, auch Emigranten aus Europa, trifft. Drei Kinder hindern sie nicht daran, sich künstlerisch immer weiterzuentwickeln und Neues zu beginnen. 1982 erhält sie im Museum of Modern Art in New York, als erste Frau überhaupt, eine Retrospektive. Ihre Produktivität und die öffentliche Anerkennung nehmen im Alter noch zu.
Ein Raum in der Hamburger Ausstellung ist dem Radierzyklus »A l´infini« von 2008 gewidmet. Vierzehn großformatige Blätter mit sich umschlingenden roten Linien – Adern gleichend – durchzogen. Unterwassertierchen, Embryos in der Fruchtblase oder kleine Menschlein in der Warteschleife des Lebens. Die Ausstellung war zum 100. Geburtstag der Künstlerin geplant. Aber Louise Bourgeois starb kurz vorher, am 31. Mai 2010, mit 98 Jahren.