Ein Mann aus dem Besitzbürgertum, Offizier wie Vater und Onkel, erfolgreicher Wirtschaftsanwalt in Hannover, Präsident der Notarkammer und Vizepräsident der Rechtsanwaltskammer – ein Erfolgstyp in der Spur des Establishments. Dann kommt 1968. Der Mann politisiert sich, tritt in die SPD ein, kämpft gegen Staatsallmacht und für Bürgerrechte. Und sitzt im Spätsommer 1983 mit vielen anderen Demonstranten in Mutlangen auf der Straße vor den Toren des US-Stützpunkts, auf dem Pershing-2-Raketen stationiert werden sollen. Das ist Stoff für eine faszinierende Lebensbeschreibung. Sylvia Remé hat sie vorgelegt. Mit immensem Fleiß und liebevoller Sorgfalt zeichnet die Historikerin, frühere Büroleiterin des niedersächsischen Landtagspräsidenten Horst Milde, das Bild des Rechtsanwalts und Landtagsabgeordneten Werner Holtfort (1920–1992).
Erinnern wir uns: Es war die Zeit heftiger Verwerfungen in Staat und Gesellschaft, der Demonstrationen und Blockaden, der RAF, die die alte Bundesrepublik mit Gewalt verändern wollte. Die Staatsgewalt schlug zurück. Strafprozesse wurden zu politischen Tribunalen. Welche Rolle sollte der Rechtsanwalt als Verteidiger spielen – »Organ der Rechtspflege« oder konsequenter Interessenvertreter seiner Mandanten? Und wie sollte er umgehen mit dem Etikett des »Terroristenanwalts«, dem Ruch der Parteinahme für Umsturz und Mord? Holtfort trug die Fragen in seinen biederen hannoverschen Rechtsanwaltsverein hinein. Nicht alle Kollegen teilten seine Auffassung, die Verteidiger müßten kompromißlos an der Seite der Angeklagten stehen, die Verteidigerrechte seien für die Bürger geschaffen worden, nicht für die Anwälte. Konsequent ging Holtfort seinen Weg, gründete 1974 die Zeitschrift einspruch, 1977 die Vereinigung »Freie Advokatur«, 1979 den »Republikanischen Anwaltsverein« (RAV), dessen erster Präsident er wurde. Und in seine renommierte Kanzlei nahm er einen jungen Kollegen auf, der bald von sich reden machen (und sich weit von ihm entfernen) würde: Gerhard Schröder.
In zahlreichen Prozessen mit politischem Einschlag trat Holtfort als Vertreter der Kläger auf, unter anderem für den vom Bundes-Verfassungsschutz abgehörten Schriftsteller Günter Wallraff und für den wegen seiner DKP-Mitgliedschaft entlassenen niedersächsischen Lehrer Karl-Otto Eckartsberg. Und er verteidigte den Osnabrücker Hochschullehrer Utz Maas, der zusammen mit weiteren Wissenschaftlern den Text des Göttinger Studenten »Mescalero« veröffentlicht hatte und deswegen wie die anderen Mitherausgeber wegen Volksverhetzung und anderer Delikte angeklagt war. Der Student hatte in dem Text anfängliche »klammheimliche Freude« über den Mordanschlag der RAF auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback eingestanden und sich dann kritisch mit dieser Spontanreaktion auseinandergesetzt; in der öffentlichen Empörung – nicht nur in der Springer-Presse, auch in der Anklageschrift gegen die Professoren – war diese eigentliche Tendenz des Textes unbeachtet geblieben.
Als 1971 Niedersachsens Justizminister Hans Schäfer die einstufige, Theorie und Praxis eng verknüpfende, Juristenausbildung zum politischen Ziel erhob, wurde Holtfort in die Kommission berufen, die ein Modell erarbeiten sollte, später auch in die Kommission, die die Errichtung einer juristischen Fakultät an der Universität Hannover vorbereitete. 1982 kandidierte er im traditionell roten Wahlkreis Hannover-Linden und wurde in den Niedersächsischen Landtag gewählt. 1986 verteidigte er das Mandat mit deutlichem Stimmenzuwachs. Seine Wählerschaft unterrichtete er, ein Novum in der niedersächsischen Parlamentsgeschichte, mit Rechenschaftsberichten über seine Tätigkeit in der Volksvertretung. Der geschliffene Debattenredner focht im Parlament wie im Gericht mit dem Florett, nicht mit dem schweren Säbel. Als Autor zahlreicher Kleiner Anfragen war er gefürchtet.
In manch weiterer Funktion leistete er anerkannte Arbeit, so als stellvertretender Bundesvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen und als Mitglied des Bundesvorstands der Humanistischen Union. Zusammen mit Eckart Spoo und dem Rezensenten bildete er das Präsidium der 1985 ins Leben gerufenen Adolph-Freiherr-von-Knigge-Gesellschaft in Hannover, einer Vereinigung, die sich der Politik und anderen schönen Künsten widmete und sich in ihrer Constitution zur Gewalt bekannte – der »Gewalt des Wortes«. Unvergessen ist sein Auftritt mit Jakobinermütze, als die Knigge-Gesellschaft zum 14. Juli 1989 des 200. Jahrestags der Französischen Revolution mit einer zweitägigen Veranstaltung rund um Hannovers Marktkirche gedachte. Die Realisierung des von der Knigge-Gesellschaft erdachten Landesdenkmals für die Göttinger Sieben (1998) hat er nicht mehr erlebt. Über seinen Tod hinaus hat er die Leitziele seines gesellschaftlichen und politischen Engagements bekräftigt: Mit der Holtfort-Stiftung, verpflichtet der freien Advokatur, den Bürgerrechten und einer intakten Umwelt, sollen Bildung und Fortbildung von Rechtsanwälten gefördert werden.
Werner Holtfort war in vielen anderen Beziehungen ein Besonderer: Elegant mit Nelke im Knopfloch, Fliege und Lancia-Fulvia-Coupé, Kavalier der alten Schule mit Handkuß für die Damen, Zinnsoldatensammler, Zeichner historischer Schlachtpanoramen. Nicht zuletzt: Kämpfer für eine amerikanismenfreie deutsche Sprache.
Sylvia Remé hat in ihrem Buch – die überarbeitete Fassung ihrer Dissertation – die Stoffülle souverän bewältigt. Immer wieder stellt sie Holforts Wirken in den zeitgeschichtlichen Kontext. Über ihre eigenen Insider-Kenntnisse hinaus schöpft sie aus dem Wissen von annähernd vier Dutzend Zeitzeugen, die sie interviewt hat. Entstanden ist eine anspruchsvolle wissenschaftliche Leistung. Mehr als das: ein lesenswertes Buch über niedersächsische Politik zwischen 1970 und 1990 und einen ihrer ungewöhnlichsten Akteure.
Sylvia Remé: »Werner Holtfort. Biographie eines Anwalts und Politikers in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts in Niedersachsen«, Martin Meidenbauer Verlag, 277 Seiten, 39,90 €.