Raubkopie?
Das Politikmanagement zeigte sich verstört – in vielen Ländern, auch in der Bundesrepublik, gingen Massen von jungen Leuten auf die Straße, ohne großen Organisationshintergrund, im Protest gegen »Acta«. Es handelt sich dabei um ein unter anderem von der EU-Kommission und der US-Regierung vorbereitetes Abkommen, das vorgeblich dem Schutz des Urheberrechts im Internet dienen soll. Tatsächlich kommt darin eher das großunternehmerische Interesse an profitabler Nutzung »geistiger Güter« zum Zuge, auch an der möglichst lückenlosen Kontrolle dessen, was sich online abspielt. Nun ist die Bundesjustizministerin gegenüber »Acta« vorsichtig geworden, die deutsche Unterschrift wurde aufgeschoben. Gewiß wirkt dabei auch die Furcht mit, aus einem länger anhaltenden Konflikt um Internetfreiheiten könnte die Piratenpartei Wahlhonig saugen. Beim Protest gegen »Acta« trat das alte Ostermarschzeichen auf, mit dem winkeralphabetischen »N« und »D«, für »Nuclear Disarmament«. Von der britischen Kampagne gegen Atomwaffen 1958 ausgehend, wurde es international zum Symbol der Antimilitaristen, auch der Bewegung gegen den Vietnamkrieg der USA. Und nun im Gebrauch libertärer Netzfans, eine Art »Raubkopie«? Da sollte man nicht kleinlich denken. Aufsässigkeit steckt in dem Zeichen, sie hat ihr gutes Recht auch gegen die Lobbyisten des Internetgeschäfts, und vielleicht entdecken Rebellen gegen »Acta«, daß in dem von ihnen genutzten Symbol noch weitere Bedeutungen stecken.
P. S.
Das Bein
Ein deutscher »Afghanistan-Veteran« erzählte in einer
arte-Dokumentation eine interessante Geschichte: Nach einem Selbstmordattentat fand er ein Bein auf der Straße. Ein trägerloses Bein, sonst nichts. In der Überzeugung, es handele sich um das abgetrennte Bein eines schwerverletzt nahebei liegenden deutschen Soldaten, steckte der Afghanistan-Veteran es in eine Plastiktüte. Um dann festzustellen: Es gehörte dem Selbstmordattentäter, dem »fucking Taliban«, wie sich der Deutsche ausdrückte.
Der Afghanistan-Veteran leidet heute unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Gut nachvollziehbar. Bereits die erzählte Geschichte hat sich in meinem Kopf festgesetzt, und ich kann sie nicht vergessen. Vielleicht allerdings aus anderen Gründen als jenen des Erzählers. Ist es nicht ein Gleichnis des »zum Erbarmen« Unsinnigen jedes Krieges, wenn man hernach die abgerissenen Beine der Erschlagenen nicht mehr zuordnen kann, wo man doch vorderhand ganz sicher war, wo die Front verlaufe – und wer da gegen wen ...?
Sebastian Bubner
Herkules auf dem Rückzug
Der Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan, hat der Deutschland am Hindukusch verteidigende Minister de Maizière gesagt, »wird zu einer logistischen Herkules-Aufgabe«. Dieser Herkules, der antike Held, war von seiner Feindin, der Göttermutter Hera, vorübergehend mit Wahnsinn geschlagen und hat im Zustand geistiger Umnachtung seine eigenen Kinder getötet. Ob der Minister diese Untat bei seiner Wortwahl im Auge hatte? Schließlich waren die Arbeiten, die Herkules berühmt gemacht haben, Strafarbeiten für den Kindermord. Welche von ihnen hat der Minister mit dem Truppenabzug verglichen? Die Ausmistung des Rindviecherstalls von König Augias? Den Klau des Gürtels der Amazonenkönigin Hippolyte? Den Transport menschenfressender Rosse des Königs Diomedes? Den Streit mit Apollon? Alle Herkulesaufgaben waren anrüchig bis kriminell und teilweise zornerregend für Tierschützer wie die Tötung des Nemeischen Löwen und der Lernaischen Hydra oder der Raub des Höllenhundes Kerberos. Und wer soll den Herkules machen? Brillenträger wie de Maizière, Westerwelle und Pofalla scheiden aus. Herkules mit so einem Ding auf der Nase – unvorstellbar. Rößler wirkt selbst ohne Brille zu zart für einen Helden. Lafontaine ist zu alt für die Rolle, obwohl er durch seine Liebschaft mit Sarah Wagenknecht Herkulestauglichkeit nachgewiesen hat. Gabriel ist für Heldentaten zu dick. Ohne Dienstwagen kommt der Mann nicht schnell genug von der Stelle. Von ihrer männerdominierenden Natürlichkeit her käme Angela Merkel in Frage, wenn sie keine Frau wäre. Denn eine Frau als Herkules, das geht nicht, bei allem Verständnis für die Frauenquote, das würden nicht einmal die glauben, die sonst alles glauben, was Herr de Maizière über Afghanistan erzählt.
Günter Krone
Frontpropaganda
»Handlanger des Todes« – so oder so ähnlich waren die Pressekommentare zum russischen und chinesischen Veto gegen eine Syrien-Resolution des UN-Sicherheitsrates überschrieben. Diese beiden Großmächte hätten sich nun selbst entlarvt, meinen die Meinungsführer hierzulande. Durch ihre Weigerung, der vom »Westen« eingebrachten Stellungnahme gegen das Assad-Regime zuzustimmen, nähmen sie »zynisch den Tod weiterer Zivilisten in Syrien in Kauf«. Nun kann kein Zweifel an der Gewalttätigkeit des herrschenden syrischen Regimes sein, auch nicht daran, daß es Rußland und China in Syrien um geopolitische Machtinteressen geht. Zur trügerischen Propaganda aber werden solche Kommentare und der Tenor bundesrepublikanischer Behandlung des Themas durch systematisches Weglassen: Kaum irgendwo wird eine Information darüber gegeben, daß Gewalt auch von syrischen Gegnern des Assad-Regimes eingesetzt wird; daß arabische Staaten, die jetzt zur militärischen Intervention in Syrien drängen, selbst Gewaltregimes sind; daß »westliche« Geheimdienste, Waffenlieferanten und Söldner bei der Eskalation der Konflikte eifrig mitmischen – und daß die USA und andere NATO-Staaten bei alledem ihre geopolitischen Interessen verfolgen. Wie schon in Libyen, so geht es ihnen auch in Syrien darum, die arabische Revolte machtstrategisch unter Kontrolle zu bringen und zugunsten eigener ökonomischer und militärpolitischer Terraingewinne umzubiegen. Mit großem Aufwand wird dafür weltweit »Öffentlichkeitsarbeit« betrieben, humanitäre Argumente vorschiebend. »Handlanger des Todes« – dieser Charakterisierung sind auch die politischen, militärischen und rüstungswirtschaftlichen Machtinhaber in den NATO-Staaten zuzuordnen. Den Tod von Zivilisten haben sie stets in Kauf genommen, in Afghanistan, im Irak, in Libyen. Jetzt in Syrien. Und so verkommt die Aufklärung über Gewalt anderer Staaten oder über deren Duldung zur zynischen Propaganda für die selbst betriebene Gewaltpolitik.
P. S.
Tschüßfreie Schule
Eine bayerische Pädagogin hat über die Grenzen ihres Freistaates hinaus Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Zur »Tschüßfreien Zone« hat die Rektorin der Grund- und Mittelschule St. Nikola in Passau ihr Terrain erklärt.
Schülerinnen und Schüler müßten lernen, bei derlei kommunikativen Formeln das Flapsige zu meiden, statt »Hallo« oder ähnlichem »Grüß Gott« zu sagen, und bei der Verabschiedung dann »Auf Wiedersehen«. Die Pädagogin begründet die sprachliche Maßnahme auch mit dem Hinweis auf die Erhaltung bayerischer Identität. Das Kultusministerium in München sieht in ihrem Vorstoß »pädagogischen Sinn«. Von Bayern lernen? Aber welche Begrüßungs- und Abschiedsworte bieten sich in nichtbayerischen Landen an? Da sind einige Vorklärungen notwendig. Das »Grüß Gott« ist – möglicherweise nur nördlich der Mainlinie – ein bißchen abgewertet durch die Unsitte, es mit »Wenn Du ihn siehst ...« zu beantworten. Darin steckt allerdings ein ernsthaftes Problem: Was soll derjenige zur Begrüßung sagen, der Gott tatsächlich nicht zu sehen vermag oder davon ausgehen muß, daß ein zu begrüßender Mensch ohne Gottesglauben ist? Es gibt ja Schulen, in denen atheistische SchülerInnen oder LehrerInnen existieren, und Christen wiederum wissen, daß man mit dem Namen Gottes nicht leichtfertig umgehen soll. Andererseits das »Tschüß«, dessen Gebrauch die Passauer Pädagogin abgewöhnen will – es hat ja selbst theistische Bedeutung, von »adieu« oder »adios« leitet es sich her, und das bedeutet (was der Sprachregulatorin vielleicht nicht bekannt war) »Gott befohlen«, den so Angeredeten wird Gottes Gunst gewünscht. Freilich ist diese Substanz des Wortes in dessen modischen Variationen – »Tschüssikowski« etwa ist derzeit bei Jugendlichen im Schwange – nur mühsam zu entdecken. Was also sollen sich Nord-, Ost- und West-Deutsche als Begrüßungs- oder Abschiedsworte in ihren Schulen wünschen? Ein Vorschlag zur Güte: »Moin« wäre zu empfehlen. Von Friesland aus hat es sich ohnehin weit verbreitet, man kann es begrüßend und abschiednehmend einsetzen, auch den Freundlichkeitsgehalt steigern und »MoinMoin« sagen, und außerdem ist die Verwendung von der Tageszeit nicht abhängig, mit dem Morgen hat »Moin«, sprachwissenschaftlichen Forschungen zufolge, gar nichts zu tun. Weltanschaulich ist das Wort neutral, denn niemand konnte herausfinden, welcher Herkunftssinn darin liegt. Und so könnte ein kommunikationspädagogisches Lernziel realisiert werden: Verbale Äußerungen sind auf die in ihnen ge- oder verborgenen Botschaften hin zu entschlüsseln, fallweise.
M. W.
Kalender mit Zeitgeist?
»Geschichtenerzähler« ist ein Wandkalender mit Abbildungen von Kleindenkmalen betitelt, den das Landratsamt Lörrach zum Jahreswechsel breit gestreut hat. Der Kalender ist Ausfluß eines laufenden Projekts zur Erfassung solcher Denkmale, wofür der Landkreis neben eigenen Kulturfördermitteln auch Fördergelder des Landes Baden-Württemberg, der Glücksspirale-Lotterie und der Europäischen Union einsetzt. Welche »Geschichtenerzähler« kommen 2012 monatsweise zu Wort? Mariengrotte und Wegkreuz, Marktfrauenbank, Grenzstein und Mühlrad zum Beispiel. Doch wer jüngst den Februar aufblätterte, wird erschrocken innegehalten haben. In dem Monat starrt ein düsteres Antlitz unter einem Stahlhelm von der Wand herab. Laut Bilderläuterung handelt es sich um einen Teil eines »Kriegerdenkmals«. Der »abgebildete Soldat« sei im unteren Abschnitt eines »riesigen steinernen Schwert[s]« eingemeißelt. Dieses rage »kriegerisch und dominant […] hoch über Todtnau empor« und sei 1932 »zu Ehren der Opfer des Weltkrieges errichtet« worden, wird die Betrachterin ganz ohne distanzierende Anführungszeichen informiert. Was haben sich die Kalendermacher bei ihrem Text gedacht? Ein kriegerisch emporragendes Kriegerdenkmal zu Ehren der Opfer des Kriegs – wie das? Ohne Krieger gäbe es weder Krieg noch Opfer. Wer Krieger und Waffen in Stein meißeln und dominant aufstellen läßt, ehrt Täter. Das spiegelt sich auch in der Bezeichnung des Denkmals, andernfalls wäre von einem Opfermahnmal die Rede. Die Frage, ob ein derart großes Objekt noch als Kleindenkmal angesprochen werden kann, wird sich ähnlich im März stellen. Dann zeigt das Kalenderblatt die enormen Fundamente des »Schlageter-Denkmals in Schönau im Schwarzwald« und informiert einen Monat lang: 1937 sei dort das ursprüngliche Denkmal abgetragen worden, um Platz zu schaffen für eine (unvollendet gebliebene) »noch größere nationalsozialistische Weihestätte«. In beiden Fällen überrascht die Objektauswahl: Kleindenkmal hin oder her – welche Kalenderbesitzerin möchte schon je einen Monat lang auf einen düsteren »Krieger«-Kopf beziehungsweise auf die Überreste einer Nazi-Personenkultstätte blicken? Aufhorchen läßt darüber hinaus die distanzlose Wortwahl. Hätte den Kalendermachern nicht auffallen müssen, daß sie beide Male keine neutrale Objektbeschreibung verwenden? Oder fällt gerade das schwer in einer Zeit, in der politisch Verantwortliche es wieder statthaft finden, die eigenen Überzeugungen anderen Ländern notfalls mit tödlicher Waffengewalt beizubringen?
Irene B. Denk
Das Pseudo-Parlament
Durch den sogenannten Fiskalpakt haben die Staaten der Europäischen Union, ausgenommen Großbritannien, jetzt eine Art gemeinsamer Wirtschaftsregierung, die mit dem Mittel der »Schuldenbremse« auch über die sozialen Verhältnisse in den einzelnen Ländern bestimmt. Die Machtverhältnisse dabei sind fein abgestuft: Ganz oben, auf dem »EU-Gipfel« treffen die Staats- oder Regierungschefs ihre Entscheidungen. Aber nicht immer alle, ständig beteiligt sind nur die aus der Euro-Zone. Die anderen Staaten des Fiskalpaktes werden einbezogen, wenn »ihre Interessen berührt sind«. Beratend können Vertreter anderer EU-Institutionen hinzugezogen werden oder auch Finanzexperten. Und das Europäische Parlament? Dessen Präsident »kann zugelassen werden, um gehört zu werden«, heißt es im Fiskalpaktvertrag. Er kann, muß aber nicht, und mitzuentscheiden hat er sowieso nichts. Bei Europaparlamentariern habe es Murren gegeben, »daß sie als gewählte Volksvertreter draußen bleiben müssen, während Banker mit am Tisch sitzen«, berichtet die
F.A.Z. Aber die europäischen Mandats-träger werden sich damit abfinden, und ihre Diäten wirken gewiß beruhigend. Sie können Trost in dem Gedanken finden, daß die Chefs auf dem Gipfel auch noch eine Instanz über sich haben, eine überirdische sozusagen – die geheiligten Finanzmärkte.
Und so hat alles seine undemokratische Ordnung.
A. K.
EU am Ende?
Eine Systemkrise erschüttert seit 2008 die westlichen Industriestaaten. Krisenzentrum ist gegenwärtig Europa, fälschlich als Eurokrise bezeichnet. Permanent beraten die Regierungen – und finden keinen Ausweg. Beharrlich zwingt das Finanzkapital die EU-Regierungen zu unsozialen Maßnahmen, damit die Bankenkredite, die die Verschuldungen erst hochgetrieben haben, wieder in ihre Tresore mit Zinseszins zurückfließen.
Monatlich sind zur Zurückzahlung der Schulden an die Banken Milliardenbeträge fällig, die nur bedient werden können, wenn die Regierungen neue Kredite vom Finanzkapital erhalten. Wie das so üblich ist, verlangt das Finanzkapital für neue Gelder Rückzahlungssicherheiten. Die Politik verkleinert deshalb die Sozialtöpfe, um Steuereinnahmen an die Banken umzuleiten. Gleichzeitig wird öffentliches Eigentum privatisiert, um Einnahmen zu erzielen und um den Finanzinvestoren neue Geschäftsfelder zur Kapitalverwertung anzubieten. US-Präsident Roosevelt hatte in der großen Krise 1929/1936 den Mut, Großinvestoren mit einer zeitweiligen Steuer von 75 Prozentpunkten zu belegen. Doch um Spekulationsgewinne zu besteuern oder eine Reichensteuer einzuführen, fehlen der herrschenden Politik heute Wille und Macht.
Zielstrebig verschlimmert wird die Verschuldung vieler EU-Staaten, indem deren Bonität durch die in den USA beheimateten Ratingagenturen herabgestuft wird. Scheinheilig wird mit der Rückzahlungssicherheit der Kredite argumentiert. Tatsächlich beschert jede Herabstufung immer höhere Zinsen für das Finanzkapital. Eine Lawine wird in Gang gesetzt, die die Welt in Lateinamerika schon einmal erlebt hat. Dort wurden die Länder bis auf »C«-Niveau herabgestuft. Das brachte den Finanzinvestoren und dem Internationalen Währungsfonds über Jahre hinweg Zinsen von rund 20 Prozentpunkten ein und führte Lateinamerika in die Elendsepoche der »zehn verlorenen Jahre«.
Die Lehren aus dieser Zeit? Die Profitmaschine ist innerhalb des Systems nicht zu stoppen. Grundsätzliche Alternativen sind gefordert. Die werden unter dem Titel »EU am Ende?« in einem jetzt erschienenen Buch diskutiert. Autoren aus Deutschland, Österreich, England, den USA, Mexiko, Kuba stellen das kapitalistische System in Frage und bringen unterschiedliche Erfahrungen und Sichten ein. Ihre wissenschaftlichen Lösungsvorschläge sind konstruktiv. Sie beschreiben ein europäisches Übergangsprogramm, eine Solidarwirtschaft und setzen sich mit der Frage Markt versus demokratische Planung auseinander. Die Entwicklungswege in China und Kuba werden in ihre Überlegungen einbezogen. Das ist anregend und lesenswert.
Günter Buhlke
Heinz Dieterich (Hg.): »EU am Ende? Unsere Zukunft jenseits von Kapitalismus und Kommandowirtschaft«, Verlag am Park, 290 Seiten, 9,95 €
Walter Kaufmanns Lektüre
Ein Roman von Rang? In der Tat! Die kritischen Einschränkungen, die erhoben werden könnten, und sollten, hat Jeffrey Eugenides auf Seite 531 (also knapp hundert Seiten vor Schluß) keineswegs in Bezug auf das eigene Werk so formuliert: »Es war, als ackerte man den späten James oder die Seiten über Landreform in ›Anna Karenina‹ durch, bis man plötzlich wieder an eine gute Stelle kam ... und man in solche Begeisterung verfiel, daß man fast dankbar war für das vorangegangene langweilige Stück.«
So verhält es sich auch mit »Die Liebeshandlung«. Detaillierte Abhandlungen über Weltreligionen sind durchzuackern, Betrachtungen über Bücher englischer Schriftstellerinnen vergangener Epochen sowie gründliche Informationen über Hefegenetik und psychopharmakologische Versuche, ehe man wieder auf Passagen stößt, die ihrer Beschreibungen und brillanter Dialoge wegen Lesevergnügen bereiten. Sagen wir es so: Es gibt kurze Romane, die lang, und lange Romane, die kurz sind – Colum McCanns Romane zum Beispiel, und die von Philip Roth, Richard Powers und Jonathan Franzen sind sämtlich lang und kurz zugleich.
»Die Liebeshandlung« des Jeffrey Eugenides ist auch deshalb von beträchtlicher Länge, weil die drei Protagonisten, um die das Geschehen kreist, Leonard, Mitchell und Madeleine, begabte Studenten einer amerikanischen Eliteuniverisät, ihr Leben partout nicht in den Griff bekommen. Sie scheitern ständig, bleiben ziellos: Der junge Leonard versinkt in manische Depressionen, Madeleine verliert sich in ihrer Liebe zu ihm bis hin zur Selbstaufgabe und der Flucht ins wohlhabende Elternhaus, und Mitchell, der Madeleine immer begehrte, von ihr aber abgewiesen wurde, flieht seinerseits ins ferne Indien, wo er – religiös angehaucht – den Ärmsten der Armen zu helfen versucht. Sehr schnell entdeckt er, daß er dazu nicht taugt – wozu aber taugt er? Das weiß er so wenig wie Leonard. Nur für Madeleine scheint sich am Horizont ein Silberstreif abzuzeichnen: Irgendwann, irgendwie wird sie, von allen Verstrickungen befreit, aus ihrem Studium etwas machen – aber was? Auch das bleibt offen, alles bleibt offen. Was dem Autor nicht anzulasten ist. Existenzen wie diese, die er mit größter Genauigkeit schildert, sind ihm sicher während seiner Studienzeit an der Brown- und der Stanford-Universität begegnet. Waren sie nicht sogar typisch für jene achtziger Jahre? Und doch, verglichen mit McCanns Welten und denen des Philip Roth, des Richard Powers und des Jonathan Franzen, auch sie gute Kenner dieser Jahre, erscheint mir die Welt des Jeffrey Eugenides (wohl gemerkt, die private Welt wie sie sich in »Die Liebeshandlung« darstellt) allzu begrenzt.
W. K.
Jeffrey Eugenides: »Die Liebeshandlung«, aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald, Rowohlt Verlag, 621 Seiten, 24,95 €
Ein Sturz
An einem trüben Samstagmorgen im Januar 2010 verließ mein Freund E. das Haus, um Brötchen zu holen, doch beim ersten Schritt rutschte er auf dem eisglatten Bürgersteig aus. Er stürzte. Alle Versuche, sich aufzurichten, scheiterten an der Glätte und seiner Kraftlosigkeit, und es dauerte die Ewigkeit von zehn Minuten, bis endlich jemand vorbeikam, eine junge Frau, die er um Hilfe bitten konnte. Im Krankenhaus wurde neben etlichen Schürfwunden ein doppelter Knochenbruch am rechten Ellenbogen festgestellt. Es folgte eine erste Operation, bei der man in den Arm eine stählerne Knochenstütze einsetzte, und nach einem halben Jahr, nachdem die Brüche geheilt waren, folgte eine zweite zur Entfernung der Stütze.
Seit Jahren hatte mein Freund in seiner Straße im Prenzlauer Berg beobachtet, daß von Haus zu Haus verschiedene konkurrierende Firmen mit dem Winterdienst beauftragt waren; sie kamen – wenn überhaupt – zu unterschiedlichen Zeiten, streuten unterschiedliches Material, einige beseitigten den Schnee, andere auch das Eis, meist nicht auf der ganzen Breite des Bürgersteigs, sondern nur einen Pfad breit, und der Pfad endete oft an der Grundstücksgrenze. E. sah darin ein Musterbeispiel für den Unsinn der Privatisierung: Wie viel schneller und zuverlässiger wären die Bürger geschützt, wenn die städtische Straßenreinigung durchgängig vor allen Häusern kehren und streuen würde! Daß die Firmen, hoch versichert seien, beruhigte ihn nicht: Schaden, meinte er, dürfe gar nicht erst entstehen, dann brauche auch keine Versicherung dafür aufzukommen.
Den Schaden, den er nun selber erlitten hatte, meldete er der Hausverwaltung, die die große Berliner Firma R. mit dem Winterdienst beauftragt hatte; für diesen Auftrag zahlte er – wie alle Bewohner des Hauses – von Jahr zu Jahr steigende Gebühren. Die Hausverwaltung äußerte Bedauern über den Unfall und ließ E. wissen, daß er wohl mit einigen Tausend Euro Entschädigung rechnen könne.
Doch dann meldeten sich diverse Versicherungsagenten, die den geschilderten Hergang in Frage stellten. Nach neun Monaten nahm E. sich eine Anwältin. Auch für die Gegenseite meldeten sich dann Anwälte, woraufhin sich zwischen beiden Seiten ein reger Schriftverkehr entwickelte. E. erfuhr daraus unter anderem, daß die große Firma R. einen Teil des Auftrags an einen Subunternehmer weitergegeben habe. Inzwischen hatte die Anwältin Klage eingereicht, die nun auf den Subunternehmer zu erweitern war. Der Gerichtstermin wurde mehrfach verschoben. Als er schließlich zwei Jahre nach dem Unfall stattfand, schien sich einiger Diskussionsstoff angesammelt zu haben – in dem Schriftwechsel hatte neben vielem anderen auch das Schuhwerk, das E. an jenem Morgen getragen hatte, eine Rolle gespielt. Doch all das verlor innerhalb weniger Sekunden seine Bedeutung, als die Richterin zur Eröffnung einen einzigen Satz sagte: Die Klage sei von vornherein »tot«, denn es gebe ja keinen Zeugen, der den Sturz gesehen hätte.
Die Anwältin erläuterte dem Kläger, leider bekomme er nun keinen Schadenersatz und kein Schmerzensgeld, sondern müsse im Gegenteil nicht nur die eigenen, sondern auch die gegnerischen Anwalts- und die Gerichtskosten tragen; letztere ließen sich reduzieren, wenn er die Klage jetzt gleich zurückziehe, so daß das Gericht nicht mehr förmlich entscheiden müsse. Damit würde E. freilich auf ein Berufungsverfahren verzichten. Er verzichtete – auch weil er inzwischen gehört hatte, wegen der Härte der beiden vorigen Winter und der dadurch verursachten großen Zahl von Unfällen habe die Versicherungswirtschaft schon viel daran gesetzt, die Rechtsprechung derart weiterzuentwickeln, daß der Schadenersatz bezahlbar bleibe.
Alles klar? Art und Schwere der Verletzungen waren ärztlich bescheinigt, und aus den Unterlagen der Gegenseite ging hervor, daß an jenem Morgen nicht gestreut worden war. Nicht zu beweisen war nur, daß E. vor diesem, nicht etwa vor einem anderen Haus gestürzt war.
Wenige Tage nach dem Gerichtstermin fand E. in seinem Briefkasten eine Mitteilung: Frau Diependahl von der Hausverwaltung gab zur Kenntnis, daß der Anwalt der Hausverwaltung, Herr Diependahl, über den erfreulichen Ausgang des Verfahrens berichtet habe: Die Klage gegen die Hausverwaltung sei zurückgezogen. E. sah sich nicht in der Lage, diese Freude zu teilen.
Freunde rieten ihm zum Abschluß einer Rechtsschutzversicherung, die ihm zwar nicht mehr in diesem Fall, aber in möglichen künftigen Fällen die Prozeßrisiken abnehmen könnte. Er ließ sich eine Police mit den Versicherungsbedingungen schicken. Was er darin zu lesen bekam, waren hauptsächlich Ausnahmebestimmungen: wann kein Versicherungsschutz bestehe.
Und was lernen wir aus alledem? Man verlasse das Haus immer nur in Begleitung eines glaubhaften Zeugen. Dann kann man sich mit weniger Bange den Unbilden des Wetters und der Justiz aussetzen.
Karla Koriander
Pressepluralismus vor dem Aus?
Die legendäre Zeitung
il manifesto, die seit April 1971 als »kommunistische Tageszeitung« von einer unabhängigen Genossenschaft herausgegeben wird und in der die wichtigsten Köpfe der nicht parteigebundenen italienischen Linken versammelt waren, steht vor dem finanziellen Aus beziehungsweise der kommissarischen Liquidierung. Es geht um einen finanztechnischen Vorgang: Aufgrund eines rückwirkend ausgebliebenen staatlichen Zuschusses kann die Bilanz für 2011 nicht abschlossen werden, und es gibt keine weiteren Bankkredite für 2012. Was Berlusconi nicht gelungen ist – die bisher unabhängige, nicht profitorientierte Presse mundtot zu machen – wird nun Monti schaffen. Denn entgegen den bisherigen Zusicherungen der neuen Regierung, die öffentliche Unterstützung eigenständiger Presseorgane weiter zu garantieren, wenn auch in reduzierter Form und nach neuen Kriterien, die den einstigen Mißbrauch ausschließen, dreht man nun den Geldhahn zu. Vor wenigen Wochen verschwand bereits die Tageszeitung
Liberazione, das Organ der inzwischen außerparlamentarischen Partei der Rifondazione Comunista; weitere Blätter sind bedroht.
Il manifesto nahm und nimmt eine Ausnahmestellung auf dem Pressemarkt ein, der sich insgesamt verändert und verengt hat. Die Zeitung hat alle bisherigen Krisen und Anfechtungen überstanden, ohne auf ihr politisches und kulturelles Niveau zu verzichten. Der Leserkreis ist geschrumpft, aber das Ansehen des Blattes ist nicht nur in linken Intelligenzkreisen hoch, und so ist zu hoffen, daß die soeben aufgelegte Solidaritätskampagne 1000 x 1000 (tausend Spender mögen je 1000 Euro spenden) Erfolg hat. Auch kleinere Beträge sind willkommen – und vor allem Abonnenten – auch aus Deutschland!
S. B.-K.
Wintermärchen
Wie aus unterrichteten Kreisen in München verlautete, hält CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt nicht daran fest, auf der Zugspitze eine Station zur Beobachtung der Partei Die Linke einzurichten. Zur Begründung seiner ursprünglichen Projektpläne soll Dobrindt auf die gute Fernsicht bei Fönwetterlagen verwiesen haben.
Auch der Plan, in der chinesischen Parteiführung V-Leute anzuwerben, die bayerische Unternehmen rechtzeitig über Investitionsmöglichkeiten informieren, werde von Dobrindt nicht weiter verfolgt. Ausschlaggebend sei ein Machtwort des CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer gewesen, dem eigene Ambitionen beim Ausbau der Wirtschaftbeziehungen zu dem kommunistischen Land nachgesagt werden.
C. T.
Press-Kohl
Aus einem der Fachblätter, welche in unserem Briefkasten landen, bin ich nun endlich über die physiologischen und historischen Hintergründe des Niesens belehrt worden. Dies verdanke ich dem
AkupunkturMagazin, herausgeben von der Deutschen Ärztegesellschaft für Akupunktur e.V. und verlegt vom Verlag publimed Medizin und Medien GmbH, Paul-Heyse-Straße 28, 80336 München.
»Die Art, wie ein Mensch niest, ist so individuell wie der Mensch selbst ... Niesen ist ein komplizierter Mechanismus, mit dem sich der Körper selbst reinigt. Die Nase wird dabei quasi geputzt ... umso gründlicher, je kraftvoller unerwünschte Partikel verbannt werden ...« Eine bahnbrechende Entdeckung.
Nach wie vor niese ich als ungebildeter Laie. (Ein Laie niest eben, indem er niest: laut, aber gründlich.)
Felix Mantel