Ein Dirndl-Wunder?
Ein kleines Beben, erst bei Herrn Brüderle und dann, ziemlich verzögert, zudem gegenläufig, bei Frau Himmelreich – und schon kracht es überall: »Ganz Deutschland diskutiert über Sexismus«, schreibt Jakob Augstein, Freitag-Herausgeber und Spiegel-Kolumnist. Und nicht nur das, nun sei die »Krise« da, ganz global, die »des weißen Mannes«, dessen Macht nähere sich dem Ende, dank der Demographie und des Feminismus. Demographische Effekte kamen bei der Begegnung des nicht mehr ganz frischen FDP-Spitzenkandidaten mit der jungen Journalistin nicht zum Tragen, jedoch über rüde männliche Umgangsweisen mit der Weiblichkeit wird jetzt aufs eifrigste getwittert und gebloggt. »Sie können ein Dirndl ausfüllen«, sagte Herr Brüderle, als er an der Hotelbar Frau Himmelreich vor sich sah, deren Brüste hatte er im Auge. Ein Satz, der – die Kommunikationswissenschaft lehrt es uns – im situativen Kontext zu deuten ist, in diesem Fall anstößig genug war, daß sich die Öffentlichkeit Gedanken über die Rechte von Frauen macht. Wird mit denen nun alles gut?
Da sind Zweifel angebracht. Erstens weiß man nicht, wie lange »ganz Deutschland diskutiert«. Die Diskussion ist mediatisiert, in kurzer Frist braucht die Branche neue Aufreger. Zweitens herrscht selektive Aufmerksamkeit – vom Machoverhalten eines Politikers gegenüber einer arrivierten Journalistin ist überall die Rede. Die kann sich wehren, sie hat Glück. Und die Verkäuferin mit dem Minijob, der ein Chef an den Po greift? Soll sie riskieren, bei nächster Gelegenheit rauszufliegen? Die Affäre Brüderle hat auch dazu geführt, daß noch mehr über die Frauenquote gesprochen wird. Wo soll quotiert werden? In den oberen Etagen der Unternehmen und in den Aufsichtsräten; Zugeständnisse an den Feminismus – rationiert nach weiblicher Klassenzugehörigkeit. Wer weiß, vielleicht hat Brüderle ja auch schon mal einer Hilfskellnerin in den Ausschnitt geglotzt und seinen Dirndl-Spruch dazu gemacht? Kein Thema für den Stern.
Marja Winken
Inkasso
§ 108 e des Strafgesetzbuches trägt die charmante Überschrift »Abgeordnetenbestechung« und lautet in seinem Absatz 1: »Wer es unternimmt, für eine Wahl oder eine Abstimmung im Europäischen Parlament oder in einer Volksvertretung des Bundes, der Länder, Gemeinden oder Gemeindeverbänden eine Stimme zu kaufen oder zu verkaufen, wird mit Freiheitsstrafe ... bestraft.« In
Zeit online wird diese Bestimmung als »Pseudoparagraph gegen Abgeordnetenbestechung« bezeichnet mit der Begründung, »weil nur der direkte Stimmenkauf strafbar ist, darf ein Unternehmen einem Parlamentarier vor der Abstimmung keinen Schein in die Hand drücken und hinterher als Belohnung sehr wohl«. Diese Annehmlichkeit soll wohl von Dauer sein. Denn nach
Süddeutsche.de »weigert sich die Bundesregierung seit neun Jahren, eine UN-Konvention umzusetzen, die viele Gefälligkeiten von Lobbyisten als Bestechung unter Strafe stellen würde«.
Gegenwärtig hat die Obrigkeit »korrupte Mediziner im Visier – Gesundheitsminister Bahr will juristische Schritte ermöglichen ... Der Bundespatientenbeauftragte Wolfgang Zöller (CSU) mahnt zur Eile ... Korrupten Medizinern müsse die Zulassung entzogen werden können« (Zitate aus
Leipziger Volkszeitung).
Die Forderung, korrupten Volksvertretern das Mandat zu entziehen, hat noch kein Politiker erhoben. Offenbar kann man auf korrupte Ärzte leichter verzichten als auf korrupte Abgeordnete.
Günter Krone
Verräterisches Schweigen
Über Managergehälter wird in der Öffentlichkeit nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen. Ihre Bezieher rechnen das Geld der »Intimsphäre« zu, über die man nicht spricht. So gebietet es der Anstand. Damit geben sie allerdings mehr zu, als sie zugeben möchten: Die Höhe der Gehälter hat etwas Unanständiges.
Klaus Hansen
Gewissen und Person
Annette Schavan will wieder in den Bundestag. Die Ministerin sieht Chancen in der Affäre. Der CDU-Kreisverband Alb-Donau/Ulm hat die Bildungsministerin eindeutig als Bundestagskandidatin bestätigt. Gegenkandidaten hatten keine Chance. Die Person Schavan wird verteidigt bis zum »Geht-nicht-Mehr«. Wo dieser Punkt sein wird, das ist noch nicht klar. Die gesamte CDU (einschließlich Bundeskanzlerin) steht hinter und zur Person Schavan.
Doch nicht nur die CDU. »Ich erhalte seit Wochen derart viel Zuspruch aus der Wissenschaft, daß ich auch die Verantwortung spüre, nicht aufzugeben«, so Schavan in der
Südwest Presse. Hier geht es nicht nur um die Person, sondern um die Institution und vor allen Dingen um gegenseitige Abhängigkeiten und Verteilungsfragen. Annette Schavan geht noch weiter: »So schmerzhaft diese Geschichte jetzt für mich ist: Wenn daraus ein gemeinsames Verständnis und ein Kodex zum wissensgerechten Umgang mit Plagiatsvorwürfen entstünde, dann wäre das ein gutes Ergebnis.« »Wissensgerechter Umgang mit Plagiatsvorwürfen«, darin steckt eine Warnung, in ihrem Sinne zu entscheiden.
Schavans Doktorarbeit aus dem Jahre 1980 hat das Thema »Person und Gewissen«. In der Auseinandersetzung um die Plagiatsvorwürfe wird fast nur von und über die Person geredet. Wo bleibt das Gewissen? »Der Vorwurf der Täuschung hat mich bis ins Mark getroffen«, sagt Annette Schavan. Meint sie damit auch Gewissen? Täuschung – so will sie das abtun, setzt Absicht voraus. Absicht weist sie von sich. Der Vorwurf der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf gegen sie, »systematisch ihre Quellen unterschlagen zu haben«, veranlaßte das anstehende Prüfungsverfahren.
Wo bleibt das Gewissen? Über 30 Jahre sind vergangen. Wissen, wenn nicht immer wieder angereichert, verbraucht sich in einer derartigen Zeitspanne beträchtlich. Doch darum geht es nicht. Gewissen hat vielleicht gegen einen Vergeßlichkeitsfaktor zu kämpfen, doch so massiv dürfte das wohl nicht sein. Schavan sagt: »Bloß kein Selbstmitleid.« Sie vertritt die Auffassung, daß es keinen Sinn hat, der Frage nachzugehen, ob alles gerecht sei, denn dann gewöhne man sich Nüchternheit und Sachlichkeit an. Wäre doch gar nicht schlecht, denn Nüchternheit und Sachlichkeit sollten zu Person und Gewissen nicht in Widerstreit stehen.
Die Universität Düsseldorf hat keine leichte Aufgabe: Ihr etwa ein (zu) hohes Maß an Vergeßlichkeit einzuräumen, sie unter dem Zeitaspekt durchschlüpfen zu lassen – das wäre bei der Vielzahl der nachgewiesenen Stellen schon ungewöhnlich. Oder aber Plagiat wörtlich auszusprechen (ohne Ansehen der Person, nüchtern und sachlich gerechtfertigt). Das müßte Konsequenzen für Person und Gewissen der (Noch-)Bildungsministerin haben. Plagiat ins Deutsche übersetzt, heißt schlicht und einfach »Diebstahl geistigen Eigentums«, und das nicht nur in der heutigen Ausgabe des »Duden«, sondern schon in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und sogar noch viel früher. Will und kann sie damit leben, zumal als Bildungsministerin? Einen Doktortitel braucht sie dazu nicht, aber Gewissen wäre eigentlich schon angebracht!
Manfred Uesseler
Steinbrück relaunched
Die Wahl in Niedersachsen, genauer: Die Gunst des Systems der Stimmenverrechnung bei derselben hat die SPD in bessere Laune versetzt, und nun macht sich die Parteiführung daran, ihren Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl als Produkt marktfähig zu machen. Steinbrück werde in den kommenden Monaten Auslandsreisen unternehmen, vor allem die USA besuchen, um Kompetenz in weltpolitischen Fragen vorzeigen zu können, meldete die
Rheinische Post. Steinbrücks PR-Berater sei dabei, eine »unglaubliche Empathie« des Spitzenkandidaten »für sozial Schwächere herauszuarbeiten«, berichtete die
Frankfurter Allgemeine Zeitung, unter anderem sei der Besuch von Suppenküchen geplant. Steinbrück »arbeitet fleißig an einer besseren Massenverträglichkeit«, lobte die
Neue Westfälische, er wolle »den Kontakt zu den Menschen suchen und die Probleme abfragen, die diesen unter den Nägeln brennen«. Eine »Themenreise« des Kanzlers in spe sei vorgesehen, sagte die SPD-Generalsekretärin im
Deutschlandfunk, ganz persönlich werde sich dann Steinbrück aller Wünsche nach sozialer Gerechtigkeit annehmen. Und viele Medien teilten mit, Steinbrück habe angekündigt, künftig auf Ironie zu verzichten. Dann tun wir es ihm gleich und schreiben nichts weiter zu dem Ausspruch des SPD-Parteivorsitzenden, daß nun »der Beginn einer neuen Renaissance sozialdemokratischer Ideen« zu erleben sei, nur dies: Sigmar Gabriel will sagen, in der SPD spiele sich diese wundersame Wiedergeburt des Sozialdemokratischen ab.
M. W.
Millionen fehlen ihr
Ausgerechnet an dem Tag, an dem der vorläufige Insolvenzverwalter der
Frankfurter Rundschau auf einer Belegschaftsversammlung Hoffnung auf ein Weiterbestehen der Zeitung machte, hat sie ihre geschichtspolitische Insolvenz erklärt. Inmitten der Titelseite prangte eine Bild-Text-Montage: »Millionen standen hinter ihm«. Der Text unter dieser Schlagzeile: »Vor 80 Jahren wurde Hitler Reichskanzler. An die Macht trug ihn die erste moderne Volkspartei. Die NSDAP vereinte Bauern und Städter, Arbeiter und Bürger, Nord- und Süddeutsche, Katholiken und Protestanten, Junge und Alte, Männer und Frauen.« Besser hätte es die Propaganda der NSDAP selbst nicht ausdrücken können. Das Foto dazu, aus den Geschichtsbüchern bekannt, zeigt Hitler am 30. Januar 1933 im Fenster der Reichskanzlei, den rechten Arm zum Gruß erhoben. Unter ihm die Menge der Jubler.
In John Heartfields berühmter Fotomontage »Der Sinn des Hitlergrußes« lautet die von der
FR parodierte Parole: »Millionen stehen hinter mir«. Visualisiert wird das durch eine überdimensionale gesichtslose Figur, die hinter dem »Führer« steht und ihm von oben Geldscheine in die Grußhand legt. Gemeint sind die Zuwendungen, die die NSDAP vor und nach 1933 von Großunternehmern und Banken dafür bekam, daß sie deren Interessen vertrat. Gemeint sind auch die vielfältigen Interventionen aus Kreisen der Industrie, um Hitler an die Macht zu bringen.
Dorthin gebracht werden mußte er, weil seine Partei zum Zeitpunkt der Regierungsübernahme gerade einmal ein Drittel der Wähler hinter sich vereinte, also nicht einmal so viele wie die heutige »Volkspartei« CDU/CSU. Keinesfalls ist Hitler, wie die Legende es will und wie es nun auch die
Frankfurter Rundschau zu suggerieren scheint, alternativlos von einer Mehrheit der Deutschen oder einer allgemeinen Zustimmungswelle an die Macht »getragen« worden.
Die im August 1945 von Antifaschisten gegründete Zeitung will von diesen geschichtlichen Sachverhalten offenbar nichts mehr wissen, wie sonst hätte sie zielbewußt Götz Aly damit beauftragt, den Artikel zum Thema zu verfassen. Auf zwei Seiten im Feuilleton breitete er seine Thesen aus, die auf das altbekannte Totalitarismus-Schema hinauslaufen und nur den einen Sinn haben können, die führenden Schichten der Weimarer Republik von ihrer Verantwortung für das NS-Regime zu entlasten.
Wie in solchen Darstellungen üblich, wird der Schein für das Wesen der Sache gehalten und die Selbstdarstellung der Nazis für bare Münze genommen. So konstatiert Aly, daß die NSDAP »keine Klassenpartei« gewesen sei, nimmt ihr also ab, die »Volksgemeinschaft« vertreten zu haben. »Hitler stand für das Neue« – aber wie und für wen? »Anders als die Sozialisten predigte Hitler nicht den internationalen, sondern den nationalen Sozialismus.« Als bald nach der »nationalen Revolution« einige naive Parteigenossen nachfragten, wo denn nun die soziale, die Revolution in der Wirtschaft bliebe, bekamen sie die Antwort, im »geistigen Sinne« sei bereits alles sozialisiert.
In seinem 2011 erschienenen Buch »Warum die Deutschen? Warum die Juden?« hatte Götz Aly bereits Horkheimers Diktum, wer vom Faschismus reden wolle, dürfe vom Kapitalismus nicht schweigen, zeitgemäß abgewandelt: »Wer nicht von der langen und verhängnisvollen Tradition eines am Ende regelrecht eingefleischten und bis heute wirksamen deutschen Antiliberalismus sprechen mag, sollte vom volkskollektivistischen Exzeß des Nationalsozialismus besser schweigen.« Die braune Diktatur als »Volkskollektivismus«, Weltkrieg und Völkermord als »Exzesse« – das muß ihm erst einmal jemand nachmachen.
Falls die
FR von der
Frankfurter Allgemeinen, wie geplant, übernommen wird, hat die Redaktion schon einmal eine Glanzleistung an Anpassungsfähigkeit erbracht. Denn was Götz Aly hier zur Deutung des finstersten Kapitels der deutschen Geschichte aufschreiben durfte, hat der langjährige FAZ-Herausgeber Joachim C. Fest so oder so ähnlich auch immer geschrieben.
Reiner Diederich
Neue Fünfte Kolonne
Wer nicht vergessen hat, was den Tschechen während der Nazizeit angetan wurde, der kann nur schwer verstehen, weshalb fast jeder zweite Tscheche bei der Präsidentenwahl Ende Januar für den deutsch-böhmischen Adligen Karel Schwarzenberg gestimmt hat, obwohl dieser den von Hitler angepöbelten und gedemütigten Edvard Benesch wegen seiner Dekrete zur Vertreibung der Sudetendeutschen massiv kritisiert hatte. Anscheinend triumphieren in der Tschechischen Republik allmählich die Geschichtsbilder der sudetendeutschen Landsmannschaft, die dort als eine Art Fünfte Kolonne ihr Unwesen treibt, indirekt unterstützt von einem Teil der tschechischen Presse, die sich weitgehend in deutscher Hand befindet.
Geschockt von der Niederlage Schwarzenbergs fragte die Inhaberin des Lehrstuhls für Germanistik an der Olmützer Universität, Ingeborg Fiala-Fürst, in einem Rundbrief an »Freunde und Kollegen in Deutschland, Österreich und Europa«, ob Deutschland umsonst Geld in den grenznahen Gebieten der Tschechischen Republik investiert habe. Immerhin seien die 2,2 Millionen Schwarzenberg-Wähler aber »ein Hoffnungsschimmer«.
Im Gegensatz zu diesem aufgeregten Echo reagierte der Sprecher der sogenannten sudetendeutschen Volksgruppe, Bernd Posselt, gelassen auf den Wahlausgang. »Wir verfechten einen eindeutigen Versöhnungskurs und versuchen, uns nicht allzu belehrend in die innertschechische Debatte einzumischen, sondern ein vernünftiger Partner im Aufarbeitungsprozeß zu sein. Da müssen wir mit sehr viel Fingerspitzengefühl vorgehen.« (
Süddeutsche Zeitung, 28.1.2013) Auch für den in der deutschen Presse geschmähten künftigen Präsidenten Milos Zeman fand er milde Worte: »Ich glaube, daß man auch mit Zeman durchaus reden kann.«
Noch vor sechs Jahren bezeichnete Posselt die Zwangsaussiedlung der Sudetendeutschen als »gezielten Völkermord«. Hat der Wolf Kreide gefressen? Träumt er zusammen mit manchen Tschechen am Ende gar von einem »Heiligen Deutschen Reich Tschechischer Nation«, in dem sich das slawische »Dienstbotenvolk« endlich geborgen fühlen kann? Das wird auch Karel Schwarzenberg nicht wollen.
C. T.
Rita Schober
Wer nicht als Einsiedler oder ähnlich als Sonderling gelebt hat, dem bewahren Mitmenschen Gedächtnis und Gedenken, viele oder wenige, für längere oder kürzere Zeit. Das sind Nachfahren, Freunde, Bekannte und vielfach jene, denen der Verstorbene auf seinen Arbeitsfeldern begegnet ist. Rita Schober und ich sind häufiger auf drei Brücken aufeinandergetroffen: Die eine bildete die Tatsache, daß an der Humboldt-Universität Romanistik in der Kombination mit Geschichte studiert werden konnte, wir es also mitunter mit den gleichen Studenten zu tun bekamen. Die andere ergab sich, als Rita über Jahre die Dekanin der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät war und ich einer ihrer Prodekane. Die dritte und am meisten betretene hatte einen Namen und hieß Victor Klemperer, der ihr Lehrer gewesen war und den ich im ersten Nachkriegsjahrzehnt ein einziges Mal bei einem Vortrag in der Aula der Jenaer Universität erlebt hatte, der aber mit seinem täglichen Lebensbericht aus den Zeiten des Nazireiches jedem Faschismusforscher vor Augen steht und Quelle ist.
Bei einem mittäglichen Gespräch in der Professoren-Mensa, das Dienstlich-Alltägliche war erledigt, fragte ich Rita Schober: »Und was wird von dem Romanisten Klemperer als Literaturwissenschaftler bleiben?« Ihre Antwort kam ohne Zögern und lautete: »Nichts.« Und der folgte im gleichen Atemzug: »Aber von uns beiden auch nicht.« Ich bin nicht sicher, ob das so ganz ernst gemeint war. Jedenfalls hat sich mein Gegenüber da erheblich geirrt. Die wissenschaftliche und editorische Leistung Rita Schobers wird Forscherwege weisend und anregend noch für Generationen von Studenten sein, vorausgesetzt, sie lassen sich nicht vom Zeitgeist und der legitimatorischen Lüge mißleiten, daß auch die Romanistin in einer Wissenschaftswüste gehaust habe.
Manches Fortleben der Toten gerinnt zur Anekdote. Rita Schober, die gelegentlich auch Autorin der
Weltbühne war, ist am 26. Dezember 2012 verstorben.
Kurt Pätzold
Ihre letzte Erzählung
Christa Wolf hat die Erzählung im Sommer 2011 ihrem Mann Gerhard geschenkt: »Was soll ich Dir schenken, mein Lieber, wenn nicht ein paar beschriebene Blätter, in die viel Erinnerung eingeflossen ist, aus der Zeit, in der wir uns noch nicht kannten?«
Erzählt wird das Schicksal des alten August: Witwer, Busfahrer, im Schriftlichen nicht besonders gut befähigt. Er war Kriegswaise aus Ostpreußen und kurz nach dem Krieg Insasse einer TBC-Heilanstalt, von den Patienten »Mottenburg« genannt. Es gab wenig zu essen, kaum Medikamente, und es mangelte an menschlicher Zuwendung. Nur Lilo – eine jugendliche Patientin mit mittelschwerem Befund – wird für den Achtjährigen zur »Fee«. Er sucht ihre Nähe und ist dabei, wenn sie mit den Frauen singt, den Kindern vorliest, bei der medizinischen Betreuung hilft. Noch nach Jahrzehnten ist die Bewunderung Augusts für sie nicht erloschen. Er hat ein bescheidenes Leben gelebt, blickt zufrieden zurück.
Ein ruhiger, unaufgeregter Ton bestimmt die Erzählung, die vor allem an eine schlimme Zeit erinnert. Aus Christa Wolfs Biographie wissen wir, daß auch sie sich in einer solchen Heilanstalt kurieren lassen mußte. Was sie erinnert, ist nicht nur die Not, auch die Kraft von Menschlichkeit, von Liedern, Märchen ... Wer überlebte, durfte ein Leben ohne Krieg erleben. Unaufdringlich, aber nachdrücklich erinnert Christa Wolf daran.
Christel Berger
Christa Wolf: »August«, Suhrkamp Verlag, 40 Seiten, 14,95 €
Was ist Gerechtigkeit?
Der emeritierte Münchner Philosophieprofessor Elmar Treptow, hat in einem seiner Seminare einmal formuliert, »Gerechtigkeit« sei »die Frage, ob und in welchem Maße gleichen und ungleichen Personen Gleiches und Ungleiches zusteht.« In diesem Satz hat der an Hegel und Aristoteles geschulte Marxist bereits die wesentlichen Fragen benannt, die eigentlich in der aktuellen Diskussion über Gerechtigkeit enthalten sein müßten.
Während die Mehrheit der Kapitalismuskritiker der Meinung ist, in der bürgerlichen Gesellschaft liege der Skandal darin, daß ursprünglich mehr oder weniger gleiche Personen in unzulässiger Weise ungleich gemacht würden, legt Treptow dar, der Markt mache ungleiche Menschen gleich, woraus potenzierte Ungleichheit resultiere. Nach Treptow abstrahiert der kapitalistische Markt von den ungleichen Anlagen, Fähigkeiten und Bedürfnissen der Individuen und macht sie auf die Weise gleich, daß im Arbeitsverhältnis, wo sich Lohnabhängige und Kapitalisten als (scheinbar) ebenbürtige Vertragspartner gegenüberstehen, von den konkreten Bedingungen der Lohnarbeit, dem Besitz oder Nicht-Besitz von Produktionsmitteln abgesehen wird. Dies hat wachsende Ungleichheit zur Folge: Denn es muß der Lohnabhängige länger arbeiten, als zum Erhalt seiner Existenz notwendig ist, während der Kapitalist daraus den Mehrwert einstreicht und wieder zum Zweck der Geldvermehrung als Kapital investieren kann. Die wachsende Ungleichheit im Kapitalismus wäre also das paradoxe Resultat der für diese Gesellschaftsform charakteristischen Art von Gerechtigkeit, die erstens auf der Unterstellung von Vertragsgleichheit basiert, zweitens mit der Tauschgerechtigkeit argumentiert und drittens auf die größtmögliche und kurzfristige Steigerung zu investierenden Kapitals ausgerichtet ist.
Der Clou an Elmar Treptows Konzeption besteht nun darin, daß er diese wachsenden Ungleichheitsbeziehungen nicht von einer überhistorisch-moralischen Warte aus verwirft, sondern zeigt, daß sie dem bürgerlichen Begriff von Gerechtigkeit voll und ganz entsprechen: Sobald eine bestimmte Position zwischen den Vertragspartnern ausgehandelt und per Vertrag fixiert wird ist sie nach kapitalistischen Maßstäben gerecht. Ungerecht erscheinen dann nur noch Vorgehensweisen, die solchen Beziehungen entgegenstehen, wie etwa direkte physische Gewalt, Betrug, Sklaverei, Korruption, Insidergeschäfte, Verstöße gegen das Kartellrecht und sonstige Übertretungen vertraglicher und gesetzlicher Bestimmungen. Solange also nicht gegen bestehendes Recht verstoßen wird, stellen die brutalen sozialen Verwerfungen im Kapitalismus keine Ungerechtigkeit dar: »... die Ungleichheit ist eben in der kapitalistischen Gesellschaft keine Ungerechtigkeit, sondern ihr integrativer, immanenter Bestandteil.«
Im Kampf der Lohnabhängigen gegen dieses System kann sich eine andere Gerechtigkeit als die abstrakte Tauschgleichheit Bahn brechen; sie geht aus von den ungleichen Bedürfnissen und Fähigkeiten der Individuen. Es würde also das Gerechtigkeitsprinzip einer spezifischen Produktions- und Gesellschaftsformation von dem einer anderen abgelöst. Das Buch ist, was theoretische Einsicht in gesellschaftliche Verhältnisse angeht, eine Sensation und die Lektüre des Inhaltsverzeichnisses bereits instruktiver als ein Blick in das Gesamtwerk von John Rawls.
Reinhard Jellen
Elmar Treptow: »Die widersprüchliche Gerechtigkeit im Kapitalismus. Eine philosophisch-ökonomische Kritik«, Weidler Verlag, 315 Seiten, 44 €
Kulturnation Deutschland
Anläßlich der Rosa-Luxemburg-Konferenz stellte der Verlag Wiljo Heinen ein kleines Bändchen mit zahlreichen dokumentarischen Schwarz-Weiß-Abbildungen vor. Der Autor, Peter Michel, war zum Signieren gekommen.
Thema seines Buches: die Vernichtung, Entfernung und das Beschädigen von Kunstwerken, die in der DDR entstanden. Es waren Rache an einem gescheiterten Gesellschaftsversuch und andere ideologische Motive, aus denen heraus nach der »Wende« Kunstwerke abgerissen wurden; sie verschwanden, wurden übermalt, entsorgt. Dabei spielten Qualitätskriterien, wie sie Peter Arlt geltend macht (s.
Ossietzky 2/13), keine Rolle. Der Vernichtungsfeldzug betraf auch Theater, Orchester, Verlage, Bibliotheken, Kulturhäuser, Straßennamen oder den Palast der Republik ... Von 19.000 Büchereien, die in der DDR bis 1989 noch existierten, wurden 16.500 geschlossen. Ein Übriges besorgte die Treuhand.
Dabei war die DDR nicht unbeteiligt an Vandalenakten: »Zu den spektakulärsten Fehlentscheidungen der DDR-Führung gehörte die Sprengung der 1240 erbauten Paulinerkirche (Universitätskirche) in Leipzig.«
Doch: Man wirft der DDR Kulturbarbarei vor und praktiziert sie selbst. In seinem Kapitel »Eine Spur der Schande« listet Peter Michel erschreckende Beispiele auf. So wurden beim »Rückbau« des DDR-Außenministeriums vier Wandbilder von Walter Womacka vernichtet. Oder: In einer Nacht im Juli 1998 wurde versucht, die Figur des Kindes aus dem Buchenwalddenkmal von Fritz Cremer herauszusägen – unfaßbar. »Die Plastik ›Der Rufer‹ von Rolf Biebl wurde im Jahr 2000 bei einer Ausstellung im Volkspark Berlin-Friedrichshain abgebrochen und in einen See geworfen. Von Tauchern wurde sie wieder herausgeholt.« Eine Verrohung breitet sich aus.
Im Kapitel »Dummheit entschuldigt nichts« geht der Autor vor allem auf Werke der Metallgestalter Fritz und Achim Kühn ein. Den skandalösen Umgang mit der Hans-und-Lea-Grundig-Stiftung an der Universität Greifswald nennt Peter Michel »akademischen Vandalismus« und »maskierten Antisemitismus«. Die Zahl der im Buch aufgeführten Beispiele kann deprimieren und wächst ständig.
Peter Michel sieht nicht untätig zu. So setzte er sich für die Rettung einer Zwischengröße des Denkmals »Befreiung« von Jürgen Raue ein, deren Endfassung schon vor Jahren vom Greizer Stadtrat auf einen seit Jahrzehnten stillgelegten Friedhof abgeschoben wurde. Die Zwischengröße war in den siebziger Jahren dem Museum Auschwitz-Birkenau als Geschenk übergeben und 1989 – in sechs Teile zerlegt – ins dortige Depot verbannt worden. Michel sorgte mit Hilfe von Sponsoren und Spendern dafür, daß sie zurückgeholt, ins Eigentum des Kunstarchivs Beeskow überführt und restauriert wurde.
Daß mit der Vernichtung von Kunstwerken gegen den Einigungsvertrag massiv verstoßen wird, beunruhigt die Verantwortlichen nicht. Peter Michels Bändchen klagt an.
Luise Weigel
Peter Michel: »Kulturnation Deutschland? Streitschrift wider die modernen Vandalen«, Verlag Wiljo Heinen, 126 Seiten, 7,50 €
Zuschrift an die Lokalpresse
Daß Lebenspartnerschaften oder zumindest Lebensabschnittspartnerschaften per Presseinserat gesucht und mitunter gefunden werden, ist nicht neu. Manche Zeitungen scheinen geradezu davon zu leben und präsentieren Angebote, denen sich kaum jemand entziehen kann, etwa »Nachtbereite Krankenschwester mit vielleicht etwas zu schüchterner Oberweite und lockigen Beinen, vom PKW oft enttäuscht, möchte mit Dir den Tag der Einheit verbringen ...«
Ich finde es gut, daß nunmehr auch mit Hilfe digitaler Verfahren schnell und modern Kontakte aufgenommen und Zweisamkeiten begründet werden können. So lockt die »Pepperos Media« als »führende deutsche Elitepartner-Vermittlung und Branchenführerin« in meinem Mail-Briefkasten mit »Service-Ranking«, »wissenschaftlichen Matchings« und »handgeprüften Mitgliederprofilen«.
Vor allem zu letzteren habe ich allerdings ein paar Fragen: Wer nimmt die Handprüfungen vor? Welche Qualifikation wird dafür vorausgesetzt? Werden, vielleicht aus dem Kreise von »Hartz IV«-Beziehern und zuverdienenden Rentnern, noch Handprüfer gesucht? Wo findet das Casting statt? Setzt das »Service-Ranking« bestimmte artistische Fähigkeiten voraus? Genügt für die »Wissenschaftlichen Matchings« ein FH-Abschluß? – Erwin Rottweiler (82), freischaffender Pensionär, 88373 Fleischwangen
Wolfgang Helfritsch