Lieber Herr Pistorius, wir haben uns gefreut, daß Sie als Niedersächsischer Minister für Inneres und auch Sport uns mit einer Urkunde »zum seltenen Fest der Goldenen Hochzeit« im Dezember Ihre »herzlichen Glückwünsche« aussprachen.
Wir bedauern, daß wir wegen des Vorkommnisses am 9. Januar, von dem wir verspätet erfuhren, Ihnen, dem Minister, diese Urkunde zurückreichen müssen.
Wir haben Sie, als Oberbürgermeister von Osnabrück am 27. Mai 2010 schätzengelernt. Sie haben damals auf Ihrem Empfang für die Jahrestagung der Schriftsteller des Deutschen PEN eine gute Rede gehalten. Sie sagten uns, daß es in Ihrer Stadt jeweils am Jahrestag des Westfälischen Friedens von 1648 einen schönen Brauch gebe: Alle Schülerinnen und Schüler der Osnabrücker vierten Klassen reiten auf ihren selbstgebauten Steckenpferden durch die Stadt zum Rathaus. Zuvor haben sich die Schülerinnen und Schüler im Unterricht mit den Ereignissen des 30jährigen Krieges und den Friedensverhandlungen beschäftigt. Das Steckenpferdreiten, so klärten Sie uns auf, symbolisiert den Ritt der Friedensboten, die 1648 die vom Osnabrücker Rathaus ausgehende Friedensbotschaft in alle Landesteile getragen haben sollen.
Sie, lieber Herr Pistorius, sitzen heute nicht mehr im Osnabrücker Rathaus und verteilen Brezeln an die jugendlichen Friedensbotschafter. Sie sind seit einem Jahr in Hannover Innenminister unseres Bundeslandes Niedersachsen. Und in dieser Eigenschaft waren Sie mitbeteiligt und mitverantwortlich für das, was am 9. Januar mit unserem Parlament geschah. Uniformierte Soldaten der 1. Panzerdivision (Leitspruch »Nec aspera terrent« – auf gut wilhelminisch »Wir fürchten nichts auf der Welt«) rückten auf den Landtag vor, drangen in das Plenum ein und setzten sich auf die Plätze der gewählten Volksvertreter – die wurden auf die Zuschauerbänke vertrieben.
Sie, sehr geehrter Herr Innenminister, waren ebenso wie der Präsident dieses Landtages und die mehr »Verantwortung« für deutsche Soldaten in aller Welt heischende Bundesverteidigungsministerin an diesem Vorfall beteiligt. Sie, alle drei, hießen die Soldaten, die sich im Landtag breitmachten, in Begrüßungsansprachen willkommen und verabschiedeten Sie feierlich in den Krieg gegen Afghanistan und in die von einem kosovarischen Organhändler regierte deutsche Besatzungszone des ein zweites Mal zerschlagenen Jugoslawien.
Einen Einmarsch des Militärs in die Volksvertretung hat es – soweit uns bekannt – außer in Niedersachsen in keinem anderen deutschen Parlament gegeben, nicht einmal in dem vom Militär beherrschten Wilhelminischen Reich, wo sich allenfalls das Rathaus von Köpenick von Militär besetzen ließ.
Die Rede, die Sie bei diesem Vorkommnis hielten, haben wir weder auf der Website des Landtags noch Ihres Ministeriums gefunden. Auch beim NDR, der den gesamten »Festakt« übertrug, war die Sendung schon nach zwei Wochen aus der Mediathek gelöscht. Überliefert ist von Ihnen nur ein einziger Satz: »Liebe Soldatinnen und Soldaten, Sie können sicher sein, Ihre Heimat steht hinter Ihnen.«
Falls Sie uns zu dieser Heimat rechnen sollten – Ihre Glückwünsche für uns lassen das mutmaßen – dann teilen Sie bitte Ihren Soldatinnen und Soldaten mit, daß nicht die gesamte Heimat hinter ihnen steht, wenn sie auf die Bürger anderer Länder schießen.
Wir sind – und anderen Bürgern dieses Landes mag es ebenso gehen – am 20. Januar letzten Jahres nicht zur Wahl gegangen, damit die Abgeordneten, denen wir unsere Stimme gaben, sich widerstandslos von ihren Sitzen im Parlament vertreiben lassen und von der Besuchertribüne zuschauen, wie uniformiertes Militär es sich auf ihren Plätzen bequem macht.
Wir fragen Sie, sehr geehrter Herr Innenminister, sollen wir an der nächsten Landtagswahl teilnehmen? Oder müssen wir, dann bleiben wir zu Hause, damit rechnen, daß die von uns gewählten Abgeordneten noch einmal ihre Sitze vor dem in das Parlament einmarschierenden Soldaten räumen? Wenn Sie als Verfassungsminister zu solchen Zuständen tatsächlich weiterhin Ja sagen sollten, wie können Sie dann als Innenminister Nein sagen, wenn uniformierte Bundespolizei auch gern mal unsere Abgeordneten auf die Zuschauerbänke versetzen möchte.
Bitte, sehr geehrter Herr Innenminister, klären Sie uns auf, ob es noch Sinn hat, in Niedersachsen zur Wahl zu gehen: Abgeordnete, die sich widerstandslos von ihrem Platz im Parlament wegräumen lassen, solche Volksvertreter möchten wir nie wieder wählen.
Mit freundlichen Grüßen, Monika und Otto Köhler