Die Bildungslüge
Den Geldwert akademischer Ausbildung hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung IAB (eine Abteilung der Bundesagentur für Arbeit) ausgerechnet: »Das Studium bringt 2,3 Millionen Euro« lautet das Ergebnis. Diese Gehaltssumme erreiche durchschnittlich in der Bundesrepublik ein Hochschulabsolvent im Laufe seines Berufslebens, im Unterschied zum Arbeitnehmer ohne Abitur und akademische Qualifikation, der komme nur auf 1,3 Millionen Euro aus lebenslanger Arbeit. Sehen wir mal von dem Mangel an Aussagefähigkeit ab, der solchen statistischen Durchschnitten innewohnt – das IAB macht hier eine Rechnung aus Vergangenheitswerten auf, der Wandel im Arbeitsmarkt auch für akademisch Ausgebildete bleibt ohne Berücksichtigung, und so entsteht ein täuschendes Bild von Erwerbschancen bei Hochschulabschluß. Inzwischen geht der Trend hin zu befristeter Beschäftigung und Niedriglöhnen für den akademisch gebildeten Nachwuchs. Wer jetzt ein Hochschul-examen macht und sich auf die IAB-Botschaft einläßt, sollte sich am besten die 2,3 Millionen Euro gleich auszahlen lassen.
M. W.
Armut als Vollzug
»Armutsrisiko steigt trotz Wirtschaftswachstum« – so überschreibt die
Frankfurter Allgemeine ihren Bericht über den »Datenreport 2013 – Ein Sozialbericht für Deutschland«. Die Betitelung wird dem
F.A.Z.-Redakteur selbst unbehaglich gewesen sein, sie klingt ja fast nach linksradikaler Agitation, aber die Daten, die da resümiert werden, sind nicht bestreitbar, und ihre Herkunft ist unverdächtig, das Statistische Bundesamt hat sie ermittelt. Dessen Präsident hat eine erklärende Formel für die Ausbreitung des Armutsrisikos mitgeliefert: Es habe sich in der Bundesrepublik »ein deutlicher Wandel der Erwerbsformen vollzogen«. Ja ja, aber wo wurde dieser Vollzug angeordnet?
A. K.
Protest in Spanien nimmt zu
Seit Tagen demonstrieren die Bürger der nordspanischen Stadt Burgos gegen ein Bauprojekt der Stadtregierung. Für den Umbau einer Straße hat diese acht Millionen Euro eingeplant. Gleichzeitig fehlen aber 13.000 Euro, um einen Kindergarten zu renovieren. Der Protest richtet sich gegen den von der Partido Popular dominierten Stadtrat, der ohne Berücksichtigung der Bürgerinteressen den Boulevard plant. Inzwischen ist herausgekommen, daß ein lokaler Bauträger hier seine Hand im Spiel haben soll.
Entfacht hatten den Protest die Bewohner des Arbeiterviertels Gamonal in Burgos. Bereits in 46 spanischen Städten gab es Solidaritätsdemonstrationen. Seit Tagen solidarisieren sich auch in Madrid auf dem zentralen Platz Puerta del Sol Bürger mit den Forderungen aus Burgos.
Nach den landesweiten Protesten hat der Bürgermeister von Burgos, Javier Lacalle, die Baupläne inzwischen zwar auf Eis gelegt, aber auf den Straßen macht sich weiter der Unmut gegen die sozialen Mißstände breit.
Karl-H. Walloch
Einer von vielen
Nach den gewaltsamen Umwälzungen in Libyen, wohin er aus dem afrikanischen Niger geflüchtet war und wo er als Dolmetscher aus dem Französischen hatte arbeiten dürfen, gab es für ihn keine Verwendung mehr. Arbeitslos, entschloß er sich für ein Leben in Europa, zahlte einem Schlepper, was er konnte, und war einer der wenigen, die aus dem gekenterten Boot Lampedusa schwimmend erreichten. Wie viele seinesgleichen ertranken, weiß er nicht. Das war im Mai 2013. In Italien blieb er ohne Unterstützung, billigte man ihm nur eine Legitimation zu, mit der das Land verlassen und in Deutschland einreisen konnte. Seitdem haust er, wie viele, in dürftigsten Unterkünften aus Blech, Holz und Pappe auf dem Berliner Oranienplatz – schon sieben lange Monate. Er ist neunundzwanzig Jahre alt, hochgewachsen, dunkelhäutig, und sein Name lautet Issa Abdou.
Und was er mir in seinem gebrochenen Englisch offenbarte, wird auch denen, die neben ihm auf der Bank saßen, aus dem Herzen gesprochen worden sein: »Wir Flüchtlinge aus Lampedusa dürfen in Deutschland kein Asyl beantragen, dürfen keine Wohnungen beziehen oder irgendwo Arbeit annehmen. Dauernd müssen wir damit rechnen, ausgewiesen zu werden. Wir leben in ewiger Ungewißheit. Ist das ein Leben? Jederzeit kann die Polizei einen von uns mitnehmen – heute, morgen, übermorgen. Wir sind es leid, herumgestoßen zu werden, wollen wieder Menschen unter Menschen sein, wollen Arbeit und eine Unterkunft. Ist das zu viel verlangt? Sind etwa wir an all diesen Kriegen schuld? Die sind das Problem, nicht wir. Wegen der Kriege mußten wir fliehen, mußten auf der Flucht unser Leben riskieren. All das Mitleid mit den Ertrunkenen vor Lampedusa hat uns nicht geholfen, im Gegenteil, die Grenzen um Europa sind dichter geworden, die Kontrollen schärfer und unsere Hoffnung auf Asyl und Bleiberecht schwindet dahin. Immer müssen wir fürchten, wieder in die Diktatur, die Kriege, die Gewalt zu geraten. Es ist naß und kalt auf dem Oranienplatz. Das Leben hier ist schwer. Schwerer aber wäre es für uns, wenn man uns von hier fortjagt. Nehmt uns nicht die Hoffnung auf Menschlichkeit – das bitten wir!«
Walter Kaufmann
Blinde Justiz
Der NSU-Prozeß zieht sich weiter hin und verliert inzwischen an öffentlicher Beachtung; Staatsanwaltschaft und Gericht sind nach wie vor entschlossen, keinen Blick zu werfen auf mögliche Hintergründe und Zusammenhänge der Mordtaten, die für die deutschen »Sicherheits«-Organe belastend sein könnten. Detaillierte Kritik daran findet sich auf
https://wolfwetzel.wordpress.com. Wolf Wetzel ist auch Autor des Buches »Der NSU-VS-Komplex«, erschienen im Unrast Verlag Münster/W.
Red.
Es gibt noch Richter in Frankfurt
So hätte man sich die bundesdeutsche Justiz gewünscht. Friedrich-Martin Balzer hat das publizistische Lebenswerk eines Richters herausgegeben und eingeleitet, der gleichrangig neben Fritz Bauer und Richard Schmid genannt werden muß, wenn von demokratisch und antifaschistisch gesinnten Juristen die Rede ist: Heinz Düx, der in der kritischen Auseinandersetzung mit der konservativen Mehrheit seiner Kollegen kein Blatt vor den Mund nahm und deshalb keine Chance hatte, Senatspräsident oder Richter am Bundesgerichtshof zu werden. Aber die Position eines Senatsvorsitzenden am Oberlandesgericht Frankfurt am Main konnte ihm nicht versagt werden. Und dort konnte er in Rückerstattungs- und Entschädigungssachen für Opfer des Naziregimes Recht sprechen, das von vielen seiner Kollegen systematisch gebeugt wurde.
Das umfangreiche Buch mit den Veröffentlichungen dieses vorbildlichen Richters bietet nun einen Einblick in sein kämpferisches und aufklärerisches Wirken. Er war der richtige Mann für die ihm zugedachten Aufgaben als Untersuchungsrichter bei der Vorbereitung des Auschwitz-Prozesses. Schon dabei lernte Düx erschreckende Innenansichten der bundesdeutschen Justiz kennen, die sich nur widerwillig mit der Wiedergutmachung des NS-Unrechts befaßte.
Das Buch gibt eine lebendige Darstellung der Widerstände und Repressionen, denen ein Jurist ausgesetzt war, der sich gegen den Strom der noch im Denken des vorangegangenen Regimes befangenen Juristenmehrheit stemmte. Düx scheute nicht den Konflikt mit den Beschützern der willigen Vollstrecker und mußte deren öffentliche Beschimpfungen aushalten, wenn er Berufsverbote und andere reaktionäre Staatsaktionen als undemokratisch anprangerte und sich für Verfolgte des Naziregimes einsetzte.
Auch vor Sippenhaft blieb er nicht verschont, als sein Sohn zur Zielscheibe existenzbedrohender Angriffe wurde. Dieser mußte fünf Jahre um seine Anwaltszulassung kämpfen, weil er es als Referendar gewagt hatte, sich als Vertreter eines Strafverteidigers auf Dispute mit Gerichtsvorsitzenden einzulassen. Die Absurdität des Vorwurfs legt die Vermutung nahe, daß es in Wirklichkeit um die stellvertretende Bestrafung des Sohnes für seinen unangepaßten Vater ging. Keine Schwierigkeiten sah der Bundesgerichtshof dagegen bei der Anwaltszulassung eines NS-Richters, der sich als Mörder in Richterrobe betätigt hatte. Begründung: »Die Mitwirkung an einem Todesurteil durch ein Sondergericht an einem Polen ist nicht unwürdig, da der Antragsteller nicht anders konnte.«
Ein weiteres Beispiel für den in den 1960er Jahren in der Justiz herrschenden Zeitgeist: »Im Gespräch über eine Demonstration der 68er, die die Polizei mit Wasserwerfern bekämpft hatte, bemerkte ein Richter am Oberlandesgericht, der später Senatsvorsitzender wurde, Wasserwerfer seien nicht das geeignete Mittel der Bekämpfung solcher Demonstrationen, sondern Flammenwerfer. Das war kein leicht hingeworfenes Effektwort, sondern sein flackernder Blick und seine zitternde Stimme verrieten sein mörderisches Wünschen und Wollen.«
Das Buch bietet auch eine Fülle von Buchbesprechungen, die zu weiterer Lektüre anregen, und lesenswerte kritische Kommentare zum Zeitgeschehen, die in wohltuendem Kontrast zur herrschenden Meinung stehen.
Heinrich Hannover
Friedrich-Martin Balzer (Hg.): »Heinz Düx: Justiz und Demokratie. Anspruch und Realität in Westdeutschland nach 1945«, Pahl-Rugenstein, 982 S., 39,99 €
Die Kunst der Straße
Noch bis zum 15. Februar ist in der Landesbibliothek Wiesbaden unter dem Titel »Die Kunst der Straße – Graffiti und Streetart« eine Ausstellung mit Fotografien von Andreas Stahl zu sehen.
Im Begriff »Kunst der Straße« schwingt beides mit: Eine Vorstellung von populärer, den meisten oder sogar allen zugänglicher Kunst – und die Vorstellung von einer Kunst, die eingreift, die Menschen in Bewegung bringt, mobilisiert. Für Wandbilder, Plakate und Spray-Aktionen, die im Zusammenhang sozialer Bewegungen entstehen, gilt Letzteres im besten Fall.
Die in der Ausstellung gezeigten Beispiele von Graffiti und Wandmalereien sind, mit einigen Ausnahmen, eher ephemerer, beiläufiger, alltäglicher Art. Vieles mit Schablone gemacht, locker gestaltete Aufschriften mehr oder weniger poetischen, philosophischen oder politischen Gehalts.
Andreas Stahl hat sich auf das konzentriert, was ihm als Passant beim Flanieren in den von ihm besuchten Städten zufällig vor die Augen und vor die Kamera kam – und was andere vielleicht eher übersehen oder nicht für wert betrachten würden, es im Bild festzuhalten. Er würdigt es als Zeugnis eines Bemühens, die städtische Umwelt nicht einfach hinzunehmen, sondern sie durch bildliche Kommentare und Eingriffe mitzugestalten. Es ist der kleine Widerstand, um den es hier geht. Abfotografiert, gerahmt und in einer Ausstellung erneut an die Wand gebracht, wirken diese Bilder anders, manchmal sogar fast archaisch und monumental.
Dem ständigen Prozeß der Anpassung, der Normierung, dem Zwang zur Ordnung wird etwas öffentlich entgegengesetzt. Das erfordert in der heutigen Zeit und in diesem Land schon einigen Mut. Seit einer Gesetzesänderung 2005 ist das Besprayen von Wänden auch dann eine strafbare Handlung, wenn kein weiterer Schaden angerichtet wurde, die Wand nicht beschädigt ist. Vorher wurde in solchen Fällen von einer Strafe abgesehen.
Einerseits wird die arrivierte Streetart bereits in Ausstellungen gefeiert. Heimische Sprayer dürfen am Bauzaun der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main ihre oft naiven oder an populäre Ressentiments grenzenden Bilder gegen das große Geld vorübergehend hinterlassen, bis sie wieder übertüncht werden. Sie wurden in den Frankfurter Tageszeitungen zur Illustration von Artikeln über die Banken und den Protest gegen ihre Macht abgedruckt.
Anderseits heißt es immer noch: »Plakate ankleben verboten!« Wände nach Lust und Laune bemalen sowieso. Aber das Sprayen wird so nicht zu unterbinden sein.
Zeichen an der Wand – die gibt es schon seit dem Beginn der menschlichen Kultur. An Felswänden in der Sahara oder in Australien, in den prähistorischen Höhlen Europas sind die frühesten zu sehen. Ihre Funktionen wandeln sich durch die Zeiten und sind unterschiedlich: magischer Zauber, freies Spiel der Formen, Menetekel, widerständiges Symbol oder spontane Kritzelei. Die Lust, sie zu setzen, und das Bedürfnis nach ihnen werden nie vergehen. Auch die in der Ausstellung gezeigten Beispiele sind ein Beleg dafür.
Reiner Diederich
»Rot-roter« Gesprächsbedarf?
Aus der Partei Die Linke kommen derzeit vermehrt Angebote an die Führung der SPD, »Gespräche« auf Spitzenebene zu führen. Aber ohne »Vorbedingungen« sollen diese zustande kommen. Die Parteiprominenz der SPD äußert sich auch gelegentlich zu dieser Idee; seit dem jüngsten sozialdemokratischen Parteitag ist eine offizielle Unterhaltung mit Linksparteilern auch in Sachen Bundespolitik nicht mehr absolut verpönt. Freilich soll die PDL sich erst einmal läutern; noch sei sie »europafeindlich« und deutschen Militäreinsätzen in aller Welt abgeneigt. Gesprächsbereitschaft zur PDL hin zu signalisieren, auf längere Sicht hin, unter der Bedingung, daß diese Partei sich mit der EU-Politik und der NATO anfreunde, war bei der SPD ein Akt innerparteilicher Harmonisierung; Unbehagen an der Entscheidung für die Große Koalition sollte durch die Aussicht auf ein »rot-rot-grünes« Regierungsbündnis nach der nächsten Bundestagswahl gemindert werden. Jetzt ist das Thema erst einmal nebensächlich, für die SPD.
Nicht so für manche Politikprofis in der PDL. Denen scheint es nützlich, solcherart Gesprächsbereitschaft öffentlich zu zeigen, dabei spielen verschiedene Erwartungen mit: Vielleicht sind so kritische Stimmungen gegenüber der Großen Koalition an der Basis der SPD wachzuhalten. Oder es sind Hoffnungen auf ein zukünftiges Bündnis mit der SPD im Bund bei PDL-Aktiven zu fördern – Ausrichtungen also darauf, die Linkspartei »regierungsfähig« zu machen, was eine gewisse politische »Mäßigung« unvermeidlich mache.
Gregor Gysi, den Medien gilt er als ideeller Gesamtpolitiker der PDL, hat nun in der
Frankfurter Allgemeinen ein viel beachtetes Plädoyer für »rot-rote Gespräche« publiziert – allerdings: »Nur ohne Vorbedingungen«. Sigmar Gabriel, so Gysi, wisse ja, daß er Kanzler nur mit Hilfe der PDL werden könne. Wenn für 2017 sich die Chance einer bundesregierenden Koalition von SPD, Grünen und PDL eröffnen solle, dann müsse dieses Bündnis rechtzeitig vorbereitet werden, zumal die Grünen gegen die Schwarzen keine Vorbehalte mehr hätten.
Folgt man Gysis Argumentation, aus der anwaltliche Erfahrung bei zivilrechtlichen Vorgängen spricht, ergibt sich folgender Ablauf »rot-roter« Verhandlungen: Vertreter von SPD und PDL setzen sich gewissermaßen amtlich zusammen und entwickeln, wie er es nennt, »eine Gesprächsebene«. Von dieser aus werden dann mögliche Differenzen abgearbeitet. »Zum Entgegenkommen gehören zwei«, sagt Gysi in der
F.A.Z., »es kann sich ja nicht eine Partei verändern und die andere nicht«.
Die »erste Ebene« bei einer Offizialunterhaltung zwischen SPD und PDL wäre naheliegenderweise: Die SPD erklärt sich geneigt, für eine Regierungskoalition im Bund die PDL heranzuziehen, und die PDL ist bereit, sich darauf einzulassen. Dann müssen die jeweiligen Zugeständnisse dafür ausgehandelt werden. Gregor Gysi ist politischer Realo, er weiß: Verhandlungen mit einem solchen Ziel können derzeit noch nicht geführt werden. Aber seine Partei kann sich schon mal einrichten auf solche Gespräche, wird er denken; Vorbedingungen für »rot-rote« Gespräche sollen nicht gestellt werden, also müssen die PDL-Mitglieder sich jetzt auch keine Gedanken darüber machen, bei welchen politischen Weichenstellungen denn die SPD ihnen, später einmal, so etwas wie »Entgegenkommen« zusichern soll.
Um den Satz von Gregor Gysi zu variieren: »Verändern« kann sich erst einmal die PDL, sie ist als nichtregierende Partei flexibler als die SPD; die SPD hat noch eine längere Frist für eventuelle »Veränderungen«. Möglicherweise verflüchtigt sich derweil der Anspruch, auch sie müsse sich »verändern«. Und so würde, in Farben formuliert, aus dem »rot-roten« Gespräch ein Zusammentreffen von Rosa mit Rosa.
Thomas Oppermann, sozialdemokratischer Fraktionsvorsitzender im Bundestag, hat in der
Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung bekanntgegeben, die SPD sei »in Wahrheit«, ihrem Wesen nach, »eine Regierungspartei«; ob sie für diese ihre Funktion in Zukunft einmal die PDL zur Hilfe nehmen könne, hänge von deren Entwicklung ab: »Die Linke steht jetzt vor einer Richtungsentscheidung. Gregor Gysi führt sie darauf zu. Das finde ich richtig.«
Nun darf die PDL darüber nachdenken, ob Oppermann da eine Vorbedingung genannt oder eine Erwartung geäußert hat, die im Erfüllungsfall zukünftige Gespräche zwischen SPD und PDL ohne Vorbedingungen ermöglicht.
Arno Klönne
Deutsch geht anders
Die Programme politischer Parteien sind nicht zur sprachlichen Stilbildung bestimmt und jedenfalls keine Unterrichtshilfe für die Lehrerinnen und Lehrer der deutschen Sprache an den allgemeinbildenden Schulen. Sie müssen aber auch keinen Leitfaden für weitere Verstümmelungen oder Verhunzungen der Sprache bieten, sie auch nur mitmachen oder anregen. Ihre Autoren tun gut, wenn sie auf die Übernahme allerlei unsinniger, aber modischer Reklamefloskeln verzichten, mit denen die Bürgerschaft tagein und tagaus überschwemmt wird. Zu denen gehört »geht anders«.
Das ist nicht der Ruf eines Pädagogen, gerichtet an seine an einem langen Wandertag sich dahinschleppenden Schutzbefohlenen, die ihre Beine nicht heben, sondern dahinschlurfen. Nein. »Geht anders« ist zu einer Allerweltswendung geworden. Ein Journalist belehrt seine Leser: »Kritik geht anders.« Wahrsager verheißen: »Zukunft geht anders.« Spezialisten der Käuferanlockung versichern, daß auch nachhaltige Kundenwerbung »anders geht«. Gewerkschaftskreise von Ver.di monieren: »Gerechtigkeit geht anders.« Ein Verein, der für die Gelenkigkeit seiner Mitglieder sorgt, ermutigt sie mit: »Hiphop geht anders.« Und die Autorin eines Romans gar hat ihrer Schrift den verheißungsvollen Titel »Liebe geht anders« gegeben. Und aus dem Streit darüber, wie unseren lieben Kleinen angenehm beigebracht werden soll, was sie so fürs Leben brauchen, ist der Aufschrei hervorgegangen: »Lernen geht anders!«
Was sagt uns das alles? Offenkundig gibt es im Leben immer eine Alternative, weniger akademisch gefaßt: »Leben geht anders.« So sahen auch die Verfasser des Programms die Sache an, das der Partei Die Linke Richtschnur ihres Wahlkampfes für das Europaparlament sein soll. Sie stimmen in den Chor der Sprachpfleger mit der Losung »Europa geht anders« ein und erkoren sie zur Hauptüberschrift. Dafür mußte nichts erdacht werden, das hatten andere vordem schon geleistet. Doch muß das nicht heißen, daß abgeschrieben wurde.
Vorzug der Programmatik: ihre Allgemeinverständlichkeit – sieht man von volksfernen Intellektuellen und jenen Mitbürgern ab, die sprachlich in den Niederungen des Deutschen noch nicht angekommen sind. Jedenfalls drückt sie Anpassung aus. Und eine Entfernung. Wovon? Das ermißt, wer sich jenes Satzes erinnert, der einst das Programm einer jedenfalls linken Partei einleitete. Er lautet: »Ein Gespenst geht um in Europa.« Mußten die beiden Verfasser ihre Adressaten so bildhaft anstrengen, andere womöglich erschrecken? Konnten sie ihnen nicht einfach und beruhigend schreiben »Europa geht anders«?
Kurt Pätzold