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Titel415

Annäherung an die Wahrheit über die DDR  (Hans Krieger)

»Die Wahrheit darf nicht davon abhängen, wem sie dient« – ein Satz von Lenin aus Michail Schatrows Theaterstück »Diktatur des Gewissens«, das die Perestroika Gorbatschows mit vehementem Furor auf die Bühne brachte und ihr mit radikaler Bewußtseinserforschung zuarbeitete. Die Wahrheit‚ nach der da frustrierte Journalisten mit einem als Spiel im Spiel improvisierten Prozeß gegen Lenin suchen, gilt der Frage, wie der Freiheitsrausch der Oktoberrevolution in einen Sklavenstaat hatte führen können.


Und eine der Antworten gibt ein strammer Straßenkehrer: neben Gewalt und Machtgier der Funktionäre liege es auch an Leuten wie ihm, die sich nach der harten Führerhand sehnen und die Verantwortung der Freiheit fürchten. 1988 hat das Moskauer Theater des Leninschen Komsomol mit diesem Stück auch in Westdeutschland gastiert und sogar den konservativen bayerischen Wissenschaftsminister Wolfgang Wild zu der Aussage hingerissen, die Thematik sei »für uns, wenn wir ehrlich sind, kaum weniger gültig« als für die Russen. In der DDR erregte des Stück Honeckers heftigen Unwillen, durfte aber gespielt werden: 1987 in Leipzig und 1988 in Berlin am Deutschen Theater.


Welcher »Wahrheit« dienen soll, was »Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit« genannt wird, ist eigentlich offensichtlich, wird aber kaum hinterfragt: Diese Vergangenheit soll nicht erkannt und kritisch angeeignet, sondern wie Müll entsorgt werden mit dem bequemen Pauschalverdikt »Unrechtsstaat«. Hinter diesem Vernichtungsetikett verschwinden die Realität des gelebten Alltags, die sozialen Errungenschaften‚ die Kulturleistungen und auch die Ansätze eines Ringens um selbstkritische Erneuerung.


Friedo Solters Berliner Inszenierung der »Diktatur des Gewissens« ist jetzt als DVD im Handel erhältlich, zusammen mit fünf weiteren Paradebeispielen des DDR-Theaters. Mit der Fulminanz der Moskauer Regie Mark Sacharows, der den Elan des hoffnungsvollen Aufbruchs unmittelbar in sinnlich pralles Spieltemperament übersetzte, kann sie sich nicht messen; sie bleibt intellektuelles Debattiertheater mit gleichwohl damals enormer politischer Brisanz. Weit aufregender ist ein anderes Stück Schatrows, das 1980 am Berliner Ensemble Furore machte und nun, neben »Nathan«‚ »Zerbrochenem Krug«, »Hauptmann von Köpenick« und Volker Brauns »Übergangsgesellschaft«, ebenfalls auf DVD zugänglich ist (DVD-Box: »Großes Berliner Theater – Vol. 1«, www.ddr-tv.de).


Auch in »Blaue Pferde auf rotem Gras« geht es um Lenin: ein Tag im Leben des Revolutionsführers, seine Gespräche, seine Konflikte mit fanatischen Genossen, seine Entscheidungen. Und müßig ist die Frage, ob dieser Lenin einigermaßen historisch korrekt gezeichnet oder doch arg idealisiert ist. Denn alles, was er sagt und wofür er steht, ist Fundamentalkritik am Verrat der Idee im »real existierenden Sozialismus«, prangert die Entfremdung vom Volk an, den Machtmißbrauch und Bürokratismus, die Mißachtung der Freiheit des einzelnen Menschen, um dessen Befreiung es bei der Revolution doch eigentlich gehen sollte. Das ist so schonungslos offen, so prägnant in der Stoßrichtung, daß jeder, der sich an das gängige DDR-Klischeebild hält, vermuten müßte, daß Christoph Schroths spektakuläre Inszenierung spätestens nach der Premiere verboten wurde. Aber nein, sie wurde mehr als zweihundertmal gespielt. Und sie wurde vom Staatsfernsehen der DDR aufgezeichnet und ausgestrahlt.


Wer diesen kühnen Vorgriff auf 1989 nicht kennt, kann nicht mitreden über das, was die DDR war und was sie hätte einbringen können in ein vereinigtes Deutschland, das seine gemeinsame Geschichte annimmt, ernst nimmt und gemeinsam verantwortet, also wahrhaft vereinigt wäre. Angelangt wäre bei einer Wahrheit, die uns allen dient und nicht bloß der Selbstgerechtigkeit des Siegers.


Ein Wort muß noch gesagt werden zum Darsteller des Lenin. Was Arno Wyszniewski an Nuancen aufzubieten hat zwischen geistesgegenwärtiger Entschlossenheit und mitmenschlicher Weisheit, zwischen nüchterner Weltklugheit und visionärem Elan, zwischen hoffender Arbeitswut und skeptischer Melancholie, ist Schauspielkunst von einer Subtilität und Tiefenschärfe, wie man sie höchstens einmal in einem Jahrzehnt erlebt. Und ist zugleich die sinnliche Erscheinung der humanen Botschaft.