Kennen Sie den? Der amerikanische Präsident Ronald Reagan sitzt schwermütig im Weißen Haus. Vor wenigen Minuten ist die Challenger explodiert. Aus dem Außenministerium wird ihm gemeldet: »Die Franzosen haben ihr Beileid ausgesprochen. Die Deutschen haben ihr Beileid ausgesprochen.« Reagan hebt den Kopf: »Und die Russen, haben die auch ihr Beileid ausgesprochen?« – »Ja, Herr Präsident, bereits zwei Stunden vor der Explosion.«
Es ist ein mittlerweile alter britischer Witz, jedoch ein typisches Beispiel für den Humor in Großbritannien, der sich unter anderem durch Absurdität, Respektlosigkeit und zuweilen auch durch antirussische Einsprengsel auszeichnet. So kann es nicht verwundern, dass der Kremlsprecher Dmitri Peskow das Vorgehen eines britischen Richters im Fall des 2006 unter mysteriösen Umständen gestorbenen ehemaligen russischen Geheimdienstagenten Alexander Litwinenko auf diesen Humor zurückführt.
Der Hintergrund des russisch-britischen Disputs ist weitgehend bekannt: Der Offizier des russischen Geheimdienstes FSB war im Jahr 2000 nach London geflüchtet und hatte sich alsbald dem Secret Intelligence Service (MI6) angedient, wofür er nach Presseberichten monatlich 2000 Pfund kassierte. 2006 war er angeblich an einer radioaktiven Plutonium-Vergiftung erkrankt und kurz danach verstorben. Ein Obduktionsbericht wurde nicht veröffentlicht. Die britische Staatsanwaltschaft beschuldigte die russischen Bürger Andrej Lugowoi, seinerzeit Geheimdienstagent und heute Duma-Abgeordneter, und den Geschäftsmann Dmitri Kowtun des Mordes, da sich diese mit Litwinenko drei Wochen vor dessen Tod getroffen und Tee getrunken hatten. Forderungen nach Auslieferung der beiden Russen lehnte Moskau ab, was zu einer wüsten Pressekampagne und zu einer schweren Belastung in den russisch-britischen Beziehungen führte.
Nun also, zehn Jahre nach dem Tod Litwinenkos, veröffentlichte der Vorsitzende eines britischen Untersuchungsausschusses, Richter Sir Robert Owen, einen 300 Seiten langen Bericht, in dem Lugowoi und Kowtun erwartungsgemäß erneut der Ermordung Litwinenkos beschuldigt werden. Aufsehen erregte der Bericht, da Sir Owen darin behauptet, dass der Chef des russischen Geheimdienstes, Nikolaj Patruschew, und Präsident Wladimir Putin wahrscheinlich Verantwortung für den Giftmord trügen. Wörtlich erklärte er: »Auf der Grundlage der mir zugänglichen Analysen denke ich, die Operation des FSB, Litwinenko zu töten, wurde wahrscheinlich von Herrn Patruschew genehmigt und auch von Präsident Putin.«
Nun endlich ist es wahrscheinlich erwiesen, dass die Vergiftung des Geheimdienstüberläufers ein von höchster Stelle genehmigter Auftragsmord war. Die Putin-Hasser jubelten. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehsender, bekannt für ihre objektive, unabhängige und faire Haltung, machten die sensationellen Enthüllungen zu ihren Spitzenmeldungen noch vor den Berichten über die Flüchtlingspolitik und den Streit in der Regierungskoalition. Die ZDF-»heute«-Sendung vom 21. Januar, 19 Uhr begann mit der Ankündigung »Brisante Vorwürfe aus London. Russlands Präsident Putin soll den Giftmord an einem Kremlkritiker gebilligt haben.« In dem so angekündigten Bericht trat auch der Moskauer Korrespondent des Senders, Bernhard Lichte, auf, der unter anderem mitteilte: »Auch die angeblichen Auftragskiller haben sich zu Wort gemeldet, sprechen von einer Farce. Andrej Lugowoi, einer von ihnen, ist mittlerweile Duma-Abgeordneter und für seine Dienste für das Vaterland mit einem Orden ausgezeichnet worden – das nur mal so als Randnotiz.« Mit dieser kleinen »Randnotiz« wird – selbstverständlich völlig unabsichtlich – suggeriert, dass der des Giftmordes Beschuldigte gerade für dieses Verbrechen mit einem Orden und dem Aufstieg zum Duma-Abgeordneten belohnt worden sei. Wie gesagt, das wurde nur suggeriert, und ein Schelm ist, wer Arges darunter versteht.
Da ist das Staatsradio Deutschlandfunk, das die Putin-Verdächtigung fast den ganzen Tag ebenfalls als Topmeldung am Anfang seiner stündlichen Nachrichten sendete, schon direkter und zupackender. In einem Kommentar wurde ohne Wenn und Aber festgestellt: »Die britische Justiz hat ihren guten Ruf bestätigt.
Unabhängig und ohne Rücksicht auf die politischen Folgen hat sie eine juristische Wertung von großer Tragweite abgegeben … Auf britischem Boden wurde ein grausamer Mord begangen. Die Täter stehen fest, die Hintermänner sind im Kreml und im russischen Geheimdienst zu finden. Der russische Präsident Wladimir Putin muss ab jetzt mit dem Makel leben, dass ein juristisches Verfahren in Großbritannien ihn des Mordkomplotts beschuldigt ... Seit heute ist eines sicher: Wladimir Putin wird niemals wieder ein von der internationalen Staatengemeinschaft respektierter und anerkannter Staatsmann sein.« Hier ist der Wunsch der Vater des unsinnigen Gedankens. Autor des Kommentars ist der Korrespondent des Senders in London, Friedbert Meurer.
In den deutschen Printmedien fand ein regelrechter Wettbewerb um die besten Schlagzeilen statt: »Litwinenko-Mord. Ein ungeheuerlicher Vorwurf.« (FAZ), »Putin und der Fall Litwinenko. Mord als Mittel der Politik.« (Bild), »Mordfall Litwinenko. An Putin perlt (fast) alles ab.« (Wirtschaftswoche), »Ließ Putin den Exspion vergiften?« (Hamburger Abendblatt), »Spuren des Giftmordes führen zu Putin« (Süddeutsche Zeitung).
Die meisten Sender und Zeitungen verzichteten darauf, halbwegs umfassend über die Moskauer Reaktionen zu informieren. Wozu auch? Der russische Präsident ist doch so gut wie überführt! In Russland ist man verständlicherweise anderer Auffassung. Der Beschuldigte Lugowoi bezeichnete das »Ergebnis der Untersuchung« als »absurd« und als Bestätigung der »antirussischen Haltung« Londons. Hinzu fügte er, dass Großbritannien 2013 Dokumente, die eine Schlüsselrolle spielen könnten, als geheim eingestuft habe, »wodurch eine richtige Untersuchung quasi unmöglich gemacht wurde«. Der russische Botschafter, der in das Londoner Außenamt einbestellt wurde, nannte das Ganze eine »himmelschreiende Provokation durch die britischen Behörden«. Russland werde nie eine Entscheidung akzeptieren, zu der es keinerlei Diskussion in einer offenen Verhandlung gegeben habe. Der Pressesprecher des russischen Präsidenten schließlich erinnerte daran, dass Russland eine enge Zusammenarbeit bei der Untersuchung des Todes des ehemaligen Mitarbeiters des FSB Litwinenko vorgeschlagen und London den Dialog verweigert habe. Er stellte fest: »Es handelt sich um einige Ansichten, die auf ›Wahrscheinlichkeiten‹ beruhen. Eine solche Terminologie ist in unserer Gerichtspraxis sowie in der anderer Staaten nicht zugelassen und kann von uns nicht als ein Urteil aufgenommen werden. Insgesamt ist das eher ein Scherz, aber der kann auch auf den feinen britischen Humor zurückgeführt werden.« (https://russian.rt.com/article/143413; übersetzt R. H.)
Auch in der russischen Öffentlichkeit wird die neuerliche Attacke auf Putin humorvoll aufgenommen. In Moskau kursiert ein abgewandelter englischer Witz: »In Moskau sitzen in einem Auto ein britischer Sir und ein Yankee. Wer fährt? Die Miliz.«