Seit dem 8. Januar 2016 brauchen sich die Neonazis nicht mehr heimlich in Hinterzimmern mit ihrem Idol zu beschäftigen; Hitlers Machwerk »Mein Kampf« steht ihnen jetzt ganz legal als Aufputschmittel zur Verfügung. Verholfen hat ihnen dazu das Münchner Institut für Zeitgeschichte, das weder Kosten noch Mühe gescheut hat, den Deutschen die Welt dieses größten Verbrechers aller Zeiten in Form einer kommentierten Ausgabe zu erschließen. 59 Euro kostet das etwa 2.000 Seiten umfassende zweibändige Werk; denn es sollte ja erschwinglich sein für Leute, die es sich sonst vielleicht nicht kaufen würden, damit sie sich ein eigenes Bild machen können, wie sich der Leiter des herausgebenden Instituts, Andreas Wirsching, ausdrückte.
In »Unkenntnis der editorischen Leistung« habe es Kritik an dem Vorhaben gegeben, schrieb Joachim Käppner in der Süddeutschen Zeitung vom 9./10. Januar 2016. Er nennt »Mein Kampf« den »Entwurf einer rassistischen Mordideologie«, bezeichnet die kommentierte Edition aber gleichzeitig als Spiegelbild einer selbstbewussten freiheitlichen Gesellschaft, die sich nicht fürchten müsse vor diesem »Buch des Bösen«. In derselben Ausgabe rät Jens Bisky dazu, nicht so sehr über Hitler zu reden, sondern über die Gesellschaft, »die ihn zum Diktator werden ließ und ihm bis zum Ende des Krieges folgte«. Wer den Nationalsozialismus verstehen wolle, »der lese Texte der Überlebenden, Bücher von Victor Klemperer, Primo Levi, Wassili Grossman oder Imre Kertész«.
Es gab da noch einen, der die Wurzeln des Bösen bloßgelegt hat, Fritz Bauer, dessen Texte dieser selbstbewussten freiheitlichen Gesellschaft allerdings sowohl vom Münchner Institut für Zeitgeschichte als auch von dem nach Bauer benannten Frankfurter Institut zur Erforschung des Holocaust vorenthalten werden, weil sie nicht in das geschönte Bild von der angeblich bewältigten deutschen Vergangenheit passen. Da trifft es sich gut, dass zur selben Zeit, da Hitlers Schmähschrift Furore macht, am 1. Februar die ergänzte Neuauflage der großen Fritz-Bauer-Biografie von Irmtrud Wojak erscheinen ist, die die Ideen des früh verstorbenen Humanisten und Strafrechtsreformers lebendig werden lässt.
Eine Biographie mit Spürsinn nannte die frühere Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, die wissenschaftliche Arbeit von Irmtrud Wojak, an der sich alle Lebensbeschreibungen des hessischen Generalstaatsanwalts messen lassen müssen, auch die jüngsten Spielfilme, in denen Fritz Bauer als Karikatur seiner selbst gezeichnet wird. Spürsinn bewies die Verfasserin besonders dadurch, dass sie die Essenz des Lebens von Fritz Bauer herausarbeitete, seine Liebe zu den Menschen, seinen unbeugsamen Willen im Kampf gegen das Unrecht, sein Eintreten für ein reformiertes Strafrecht, das den Sühnegedanken beiseitelässt und dem Verurteilten die Rückkehr in ein geregeltes Leben erleichtert. Einen Juristen aus Freiheitssinn nennt sie ihn, einen Kämpfer für den Widerstand als Menschenrecht.
Das hat nicht allen gefallen. Sie wahre nicht genügend Distanz zu ihrem Gegenstand, hielt man ihr ausgerechnet im Fritz Bauer Institut vor, wo sie als stellvertretende Direktorin hinausgeekelt wurde. Bis heute wird ihre Biographie über den Namensgeber des Instituts von der wissenschaftlichen Einrichtung boykottiert. Irmtrud Wojaks Bestreben als Gründungsdirektorin des so bezeichneten Münchner NS-Dokumentationszentrums, die Erinnerungskultur nicht auf das Gedenken an die Opfer zu beschränken, sondern auch die deutschen Widerstandskämpfer einzubeziehen und vor allem die Täter von einst mit Namen zu nennen, missfiel den Stadtoberen so sehr, dass sie ihr den Stuhl vor die Tür setzten, als fürchteten sie das Ungeheuer in der Seele des deutschen Volkes, das die Wahrheit scheut, wie der Teufel das Weihwasser.
In gewisser Weise teilt Irmtrud Wojak das Schicksal Fritz Bauers, den die politische Klasse zu Lebzeiten am liebsten auf den Mond geschossen hätte, was sie nicht hindert, sich mit ihm zu schmücken und seinen Namen wie eine Tapferkeitsmedaille am Revers zu tragen. Jüngste Ausgeburt des alltäglichen Wahnsinns: Der Vorschlag aus der politischen Ecke, die kommentierte Edition von Hitlers »Mein Kampf« als Unterrichtsmaterial an den deutschen Schulen zu benutzen. Und die Fritz-Bauer-Biographie von Irmtrud Wojak? Dabei könnten junge Menschen hier erfahren, worauf es ankommt in Zeiten wie diesen, da sich zu bewahrheiten scheint, was Fritz Bauer der Nachwelt auf den Weg gab: »Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.«
Irmtrud Wojak: »Fritz Bauer 1903-1968«, Buxus Edition 2016, ca. 600 Seiten, 28 Euro, zu beziehen über den Buchhandel beziehungsweise direkt bei der Buxus Stiftung, Murnauer Straße 2, 82438 Eschenlohe, edition@buxus-stiftung.de