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Titel416

Kunst heißt weglassen  (Sigurd Schulze)

Die Berliner Philharmoniker bilden ihre Leute. Abgesehen von den Konzerteinführungen für die Sinfoniekonzerte vermitteln ihre Veranstaltungsreihen im Kammermusiksaal der Philharmonie sowohl Unterhaltung als auch Wissen. Im Philharmonischen Salon war im Januar der 150. Geburtstag von Jean Sibelius dran mit dem Thema: »Die Töne leuchten – Jean Sibelius in Berlin«, gestaltet von dem Altphilharmoniker Götz Teutsch. Das Programm bot durchaus Entdeckungen, nämlich Sibelius‘ Kammermusik mit den Streichquartetten B-Dur und d-Moll, mit Suiten für Streichtrio und für Violine und Klavier, mit Duos für Violine und Violoncello oder Viola, mit Volksliedern und Walzern. Dies dargeboten von den vorzüglichsten Solisten der Berliner Philharmoniker, Daniel Stabrawa (Violine), Ludwig Quandt (Cello), von Cordelia Höfer (Klavier) als Gast und dem Philharmonia Quartett. Das wurde garniert mit Lesungen aus dem finnischen Nationalepos Kalevala und von Texten über Sibelius‘ Kindheit, seine Entwicklung als Komponist und vor allem über seine Beziehung zu Berlin, wo er sich seit 1889 30mal aufhielt – zum Studium, zum Komponieren und zum Genießen des Großstadtflairs. In Berlin wurde zum Beispiel unter Richard Strauss 1905 die revidierte Fassung seines Violinkonzerts uraufgeführt. Sein Triumph war 1902 sein Dirigat des Berliner Philharmonischen Orchesters mit seiner Symphonischen Dichtung »En saga«. Erheitert wurde das Publikum mit Schilderungen von Sibelius‘ spießig-bohemienhaften Sauftouren in Berlin. Seine Beziehung zu den Nazis im Amt des Vizepräsidenten des »Ständigen Rats für die internationale Zusammenarbeit der Komponisten« (1934) und die Gründung der »Deutschen Sibelius-Gesellschaft« im Jahre 1942 auf Anordnung von Goebbels hingegen wurden vornehm ausgespart. Kai Köhler charakterisiert Sibelius in der jungen Welt als Teil einer Variante des »faschistischen Internationalismus«. Auf der Suche nach kulturellem Prestige fanden die Nazis Ansatzpunkte bei »nordischen« Komponisten. Sibelius war nach Köhlers Meinung im engeren Sinne kein Nazi, doch Vertreter eines reaktionären Bürgertums und Gegner des Kommunismus. Die Avancen der Nazis schmeichelten ihm, und er profitierte von ihrer Kulturpolitik durch Aufführungen seiner Werke in Deutschland und durch mehr Bekanntheit in Europa.


Die Berliner Philharmoniker vertrauen ihre Programme gern Liebhabern an, die ihr Werk mit Begeisterung betreiben, aber nicht empfinden, wo sie aufhören müssen. Das Buch »Die sieben Brüder« von Aleksis Kivi mag Sibelius gekannt und sogar geschätzt haben, aber die Lesung eines Kapitels daraus war für das Berlin-Erlebnis des Meisters entbehrlich.

Eine wertvolle Reihe ist »Unterwegs – Weltmusik«, die Roger Willemsen aus dem riesigen Fundus seiner Forschungen auf allen Kontinenten gestaltet. Er stellt sowohl die Musik ferner Kulturen als auch ihre Komponisten, Sänger und Instrumentalisten vor. Als Dramaturgin und Autorin wirkt Birgit Ellinghaus, die für den erkrankten Willemsen das Programm souverän gestaltet. Bei der Planung war nicht vorauszusehen, wie brandaktuell das Programm im Januar werden würde: »Unterwegs im Nahen Osten« – Musikkulturen aus Syrien, Irak, Libanon, vom Sinai und aus Palästina. Zu Hunderttausenden strömen die Menschen nach Deutschland. Ihre Lieder, Balladen, liturgischen Gesänge nach Texten von Volksdichtern wurden hier vorgetragen, von deren Geist der hiesige Hörer vielleicht ein bisschen was begreift. Die Moderatorin Katty Salié hielt eingangs eine viertelstündige Vorlesung über alte und neue Dichter und Komponisten und über die Tradition der Volksdichtung des Nahen Ostens. Währenddessen freuten sich die Zuschauer und die Musiker auf den Auftritt des Ensembles Lagash mit dem Iraker Saad Thamir, dem Inder Jarry Singla und den Deutschen Christina Fuchs (Klarinette) und Dietmar Fuhr (Kontrabass). Ein Fortschritt waren die kurzen Inhaltsangaben Birgit Ellinghaus‘ im Programmheft zu jedem Stück.


Infolge der Kriege in Syrien, im Irak und in Palästina wurden führende Musikzentren in Bagdad, Aleppo, Beirut und Palästina zerstört, Instrumente und Noten wurden vernichtet, viele Musiker starben. Angesichts der Verwüstungen in ihren Ländern wurde das Konzert zum Politikum und zum Zeichen der Hoffnung auf Frieden. Anrührend erklang das Stück »Der letzte Gang« nach dem Text des palästinensischen Lyrikers und Widerstandskämpfers Mahmud Darwisch und das Lied »Reisender ohne Gepäck« des Irakers Abdul Wahab Al-Bayati, das die Entwurzelung seines Volkes beklagt. Ein Höhepunkt war der Auftritt der libanesischen Sängerin Ghada Shbeir, die traditionelle syrisch-maronitische und syrisch-katholische Gesänge vortrug.


Das Ensemble der Palästinenserin Kamilya Jubran widmete sich dramatischen Stoffen des Lebens und Leidens der Beduinen in der Negevwüste und auf dem Sinai und ihrer Vertreibung durch die israelische Siedlungspolitik. Doch leider versagte auch hier das Gefühl, wo man aufhören muss. Das von den Musikerinnen versuchte Experimentieren mit neuen Methoden kreierte nicht die von der Moderatorin (ironisch?) angekündigten atemberaubenden Melodien, sondern Langeweile, die die Hörer scharenweise weggehen ließ. Das Lob der Moderatorin an den Rest, dass sie sich hätten herausfordern lassen, machte es nicht besser.


Spannend wäre es gewesen, das Programm nach dem Beispiel des Pianisten Emanuel Ax, der im Dezember in Berlin mit dem Deutschen Symphonie-Orchester konzertiert hatte, in einem Hangar des Flughafens Tempelhof zu spielen, wo die Menschen kampieren, die den Musikern gewissermaßen vorausgeeilt waren. Vielleicht wäre dort auch der Teil ganz anders angekommen, der im Kammermusiksaal nicht überzeugte. Doch gemach, nach den Plänen des Berliner Senats werden die Flüchtlinge dort wohl noch einige Zeit ausharren müssen – Gelegenheit für gute Taten.