In Ossietzky 3/2016 schrieb ich über die aktuelle Inszenierung von Samuel Becketts Stück »Warten auf Godot« am Deutschen Theater.
Beckett hat mich immer fasziniert. Ich wollte ihn so gern auch in der DDR herausbringen. Doch dafür musste ich ihn nicht nur gelesen, sondern auch einmal in einer halbwegs authentischen Inszenierung gesehen haben. Die von Roger Blin herausgebrachte Uraufführung von 1953 in Paris konnte ich mir von Wien aus einfach nicht leisten. Da mussten Berichte genügen. 1974 inszenierte der Autor sein Werk selbst im Schillertheater Berlin-West und dazu mit exzellenten Schauspielern wie Horst Bollmann, Ernst Schröder und Stefan Wigger. Es war nahezu köstlich – aber das war doch so renitent wie komisch! Das mussten auch wir machen.
Wir – also der Henschelverlag, für den ich tätig war, und der Verlag Volk und Welt – hatten eine besondere Reihe: »Internationale Dramatik« (siehe Ossietzky 22/2012). Die Reihe war einmalig in Europa – ich vermute sogar im Erdkreis, denn es war unglaublich, wie viele Autoren aus Übersee, aus Japan, aus Afrika, Australien bei uns gedruckt werden wollten und auch gedruckt worden sind – in insgesamt 104 Bänden. Wir gaben Autorenbände wie eben zu Heiner Müller, Jean Anouilh, Samuel Beckett und Thornton Wilder, Länderbände (etwa mehrere bundesdeutsche, sowjetische oder einen bulgarischen, afrikanischen, japanischen) oder Themenbände (Stücke nach der Antike, Stücke für Puppentheater) heraus. Oder wir nannten Bände »Stücke international« (mit beiden Capeks über Pinter und Bernhard und Enquist bis Cortázar). Da musste auch der Beckett hinein, zu »Warten auf Godot«, später kam er in meinen Sammelband, der dann auf unerforschlichen Ratschluss des Kulturministeriums nicht bei Henschel, sondern bei Volk und Welt herausgekommen ist. Immerhin: Er war nun da.
1979 hatte ich damit begonnen, alle Texte zu beschaffen, zu lesen, auszuwählen (geplant waren ein Dramenband für Henschel und ein Prosaband für Volk und Welt, für den dann ein anderer Autor verantwortlich gezeichnet hatte). Ab 1982 etwa begannen dann die mühseligen Wege durch die Kulturbürokratie – so nach Brechts Diktum: »Die Mühen der Berge liegen hinter uns, vor uns liegen die Mühen der Ebenen.«
Ich weiß heute nicht mehr, wie viele lange Sitzungen und Gespräche es da gab: im einst von mir geleiteten Lektorat für Darstellende Künste, im Cheflektorat, in der Verlagsleitung (neben den ideologischen Sorgen gab es auch die Frage der Devisen) – alle im Hause. Später mit den Kollegen von Volk und Welt, in der Akademie der Künste, im Literaturinstitut der Akademie der Wissenschaften. Gute Unterstützung gab es dort durch die Professoren Werner Mittenzwei (deutsche Literatur), Manfred Naumann (romanische Literaturen) und Robert Weimann (Anglistik). So um 1985/86 waren wir so weit.
Da hatte sich ein neues Hindernis aufgetan – in der Gestalt von Siegfried Unseld, Chef des Suhrkamp Verlags, der die deutschen Rechte besaß, und unsere Ausgabe untersagte. Niemand konnte es begreifen, am Ende kam heraus: Er wollte einen Herausgeber seiner Wahl, nicht mich. Was tun? Zweierlei: mit Beckett ins Gespräch kommen, meinen Text im Voraus publizieren. Er erschien in der Zeitschrift Sinn und Form 4/1986 und erreichte den Literaturnobelpreisträger über seinen Übersetzer Elmar Tophoven. Beckett lud mich nach Paris ein, und so kam es 1988 zu dieser wunderschönen Begegnung, zu einem zweistündigen Gespräch im Café Cluny, und bald auch zum Erscheinen der beiden Bände (Ihrem Dramenband und dem Prosaband, beide bei Volk und Welt). Das »Endspiel« hatte nun auch das Endspiel der DDR eingeleitet. Das war nicht beabsichtigt, aber eigentümlich war es für mich schon.
Ein Wort zum Gespräch, zum Resultat: Der Theaterdichter legte erheblichen Wert auf die Feststellung: »Meine Stücke sind Comedys, und es soll gelacht werden.« Und noch eines zum Ablauf: Der Übersetzer hatte mir eingeschärft, den alten Herrn (er war 82) keinesfalls länger als eine halbe Stunde in Anspruch zu nehmen. Ich beherzigte das, stellte noch eilig eine letzte Frage und kramte meine Notizen zusammen. Da fragte mich Beckett etwas unwirsch, warum ich in seiner Gegenwart so viel im Papier krame und räume, und ich erklärte die mir auferlegte Bedingung. Darauf S. B.: »Also wissen Sie, über meine Zeit verfüge ich noch allemal selber.«
Zum Abschied nahm er mich mit in ein Theaterchen, welches mit der besonderen Pflege seines Werkes betraut war: Es hatte offenbar nur seine Texte im Programm, also auch rein literarische. Und lustig war es auch. So erhielt ich ganz besondere Einblicke in die Werkstatt des Meisters. Meinen um die Wende 1988/89 herausgekommenen Band konnte er noch erhalten, bevor er am 22. Dezember 1989 verstarb.
Immerhin war so viel erreicht worden, dass Becketts Werk ins DDR-Repertoire gebracht werden konnte. Der Sinn und Form-Text hatte Bühnen ermutigt, mein Band unter dem Titel »Spiele« ebenfalls. Das Staatsschauspiel Dresden brachte eine damals noch recht ungewöhnliche Inszenierung: Es hatte zu der Zeit keine besonders guten Männerschauspieler, dafür umso bessere Frauen. Also wollte Regisseur Klaus Dieter Kirst die vier wichtigen Rollen mit Frauen besetzen. Das wiederum wollte Beckett nicht. Da machte Kirst etwas völlig anderes – er gab ganz jungen, fast frisch von der Schauspielhochschule gekommenen Darstellern diese hochkomplizierten Rollen, die sie auf frische und begeisternde Art unkompliziert, aber fast stürmisch-keck spielten – es wurde in jedem Falle ein Abend, der in Erinnerung geblieben ist – so nach der Idee, Beckett geht uns etwas an.
Es war ein Sieg, und der Meister, der zwar eingeladen war, aber krank und in hohem Alter, konnte nur noch ein paar Filmschnitte sehen, die ihm zugeschickt worden waren, er soll zufrieden gewesen sein. Es war der letzte Theatereindruck des alten Mannes, wenige Tage vor dem Ableben – sein Werk ganz jung gespielt zu sehen. Immerhin etwas Besonderes und Bemerkenswertes! Etwas später folgte eine recht müde Aufführung in der Volksbühne am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz, die nicht weiter zu erwähnen ist.
1996 veranstaltete das DT in einer Klassebesetzung mit Jürgen Holtz (Estragon), Christian Grashof (Wladimir), Michael Maertens (Lucky) und Eberhard Esche (Pozzo) eine repräsentativ-prominente Inszenierung von Jürgen Gosch, doch blieben deren Bilder mir nicht haften. Erstaunlich! Doch nicht ganz rätselhaft! War es der Geist vom 1984 verstorbenen Intendanten Wolfgang Heinz (nicht von diesem grandiosen Schauspieler), der mit S. B. nichts anzufangen wusste, doch diese Schauspieler geprägt hatte.
Nun sind kaum zwei Jahrzehnte verflossen, und Godot ist wiedergekommen – im DT. Positiv bleibt zu vermerken: Auf die üblichen Mätzchen des sogenannten Regisseurstheaters haben Panteleev und seine Mimen verzichtet. Doch Erkenntnis, Reife, Tiefe im Welterfassen blieben auf halber Strecke. Was tun? Wir können doch keine Katastrophen wünschen, um Größe und Tiefe auf der Bühne zu erreichen. Mit der Frage, eigentlich der Antwort, bleibe ich auf der Strecke. Doch gebe ich eine andere Frage mit auf den Weg: Warum befassen sich unsere Bühnen und ihr Personal (das DT hat auffällig viele Regisseure – die gute Nachricht; doch kaum besondere Handschriften) so wenig mit dem Krieg? Sollen Schillers »Wallenstein« und Brechts »Mutter Courage« (neben einigen Shakespeare-Dramen und den »Persern« von Aischylos) die einzigen großen Antikriegs-Dramen bleiben? Eventuell ergänzt durch Aristophanes‘/Hacks‘ »Der Frieden«? Zu Nolte Decar konnte ich nichts ermitteln. Die Pressenotiz, der ich diese Angabe entnahm, gab nichts weiter her; die angefragten Bühnenverlage konnten dazu nichts mitteilen.
Etwas von Jelinek? Könnte Dea Loher dahin kommen? Nolte/Decar zielte wenigstens in die Richtung, aber diese Rakete war eher eine alte Kanone oder eine Waffe mit verzogenem Lauf. Unsere kleine Erde als Heimat des Friedens? Wird das »Prinzip Hoffnung« doch einen Sieg davontragen? Kann Kunst, vor allem unsere transitorische, doch unmittelbar zupacken könnende Kunst als höchste Weise, sich um die Menschheit zu kümmern, das leisten? Sprechen wir uns Mut zu!