Das belgische Schauspieler- und Regiekollektiv nennt sich FC Bergman – der Titel des Stückes, das es zu den Lessing-Tagen im Hamburger Thalia-Theater aufführt, ist auch seltsam: »300el x 50el x 30el«, er bezieht sich auf die Maße der Arche Noah, vom göttlichen Baumeister vorgegeben. Es gibt keine Arche, nur ein paar primitive Holzhütten auf der Bühne. Der Boden, mit Herbstlaub bedeckt. Drei große Video-Leinwände, die den Blick auf die Innenräume erlauben. Ein Kamerawagen umkreist das Dorf. Das erste Bild erinnert an Spitzwegs »armen Poeten«. Ein alter Mann im Bett. Kein Regenschirm – ein Vogelbauer über ihm mit lebendiger Taube. Der Mann (Noah?) reißt sich EKG-Kontakte von der nackten Haut, steht auf, geht weg. Nach draußen, in den Wald.
Ein Junge nimmt den Platz auf dem Bett ein. Später öffnet er die Tür des Käfigs, nimmt Noahs Taube und erschlägt sie. Nicht wirklich. Unter einem Schränkchen verborgen: ein Austausch-Modell. Das packt er nach dem Mord in eine Kiste. Die wird auf der Bühne in einem Teich versenkt. Dann sehen wir die Taube wieder munter im Käfig. Wir hören keinen Ton. Den ganzen Abend lang wird kein Wort gesprochen. Die Bewohner des Dorfes verstehen sich auch so, brauchen die Sprache nicht. Ihre Gemeinschaft ist so eng, abgeschottet nach außen, Gesten genügen. Warum verließ der Alte die Sippe? Andere Tiere als die Taube lassen die Bewohner nicht hinein, keine lebendigen, die gefährlich werden könnten. Kommunikation? Sollen die vielen Zettel, die an einer Wand angepinnt sind, dazu dienen? In einem anderen Raum langweilt man sich. Einer onaniert lustlos und telefoniert dabei, lautlos. Neben ihm seine Frau. Nebenan spielt ein anderer, zündet etwas. Es knallt. Er trägt einen Stahlhelm (andere auch). Angst vor dem eigenen Experiment? Dann starren alle nach oben, was ist dort? Gott? Zuerst wunderbare Musik von Vivaldi, dann ein Klopfen oder Hacken. Es wird keine Arche gebaut – das Dorf ist die Arche. Abgedichtet nach außen – ein schwimmender Atombunker? Nur auserwählte Menschen dürfen hinein. Niemand von außen – Flüchtlinge? Die verderbte, die böse Welt, bleibt draußen.
Hier innen wird Wehrhaftigkeit geübt. Schießversuche mit Pistole – wie bei Wilhelm Tell mit einem Apfel auf dem Kopf eines Kindes. Alles sehr komisch. Danach wird der Kopf verbunden, der Apfel gegessen. Im nächsten Zimmer verleibt sich eine Dame Essbares ein. Vorsorglich, vielleicht wird es bald knapp. Sie hat Zuschauer, die nichts abbekommen.
Eine Frau schreit, schreit so hoch und schrill wie Oskarchen. Gläser gibt‘s hier nicht zum Zerspringen. Eine Frau stöhnt, stöhnt so gewaltig wie bei einer Geburt. Sie gebärt eine Muschel, ein spitzes, scharfes Riesending. Dann Klavierspiel. So langweilig, dass die Pianistin über ihrem Spiel einschläft. Nebenan im Bad liegt jemand in der Wanne – tot? So klar ist das auf dem Video nicht zu erkennen. Ein Mann, der schon lange draußen am Teich sitzt und angelt, er sucht etwas darin, zieht und zieht. Ein Tier? Nichts Lebendiges. Es hat ein Fell. Ist es ein Schaf? Ein Lamm? Sündenbock? Das Lamm Gottes? Es wird hochgezogen und bleibt dort über der Szene hängen, drohend. Angst, alle starren auf das Symbol. Gospel-Songs stiften den religiösen Hintergrund.
Schwindendes Licht. Zwei machen Liebe. Sie über ihm – sieht ein Tier, das sich um seinen Hals schlingt: eine Riesenschlange. Lebendig. Alles im Video. Die Frau (Eva?) schreit, will fliehen. Ein Dröhnen erfüllt die Luft, ununterbrochen. Sie rennt hinter dem Kamerawagen her. Ganz hinten, eine fahle Sonne spiegelt sich in einem imaginären Wasser. Er nimmt etwas von der Wand: eine alte vergilbte Landkarte? Will er die Arche, das Dorf verlassen? Er steht da mit Koffern, sie daneben. Haben sie noch Hoffnung auf Land? Alle andern bilden einen Kreis um ihn, sie steht abseits. Es gelingt ihm, eines der Häuschen zu erreichen. Es wird verbarrikadiert, ein Brett vor die Tür genagelt. Sie sieht zu, geht weg. Ein großer Knall, Flammen in der Hütte. Vom Himmel fallen tote Tiere – Tauben. Keine Hoffnung mehr. Kein Frieden.
Wasser kommt, nicht von oben: in Eimern. Köpfe werden hineingesteckt. Alle bewegen ihre Oberkörper im gleichen Rhythmus. Eine Hand ins Wasser gesteckt und ein Kreuz geschlagen. Eine religiöse Geste mit Weihwasser? Alle vollführen einen Tanz auf der Stelle. Der Kamerawagen rast um die Bühne herum, nimmt jetzt auch das Publikum auf. Sind nun alle happy? Weil er, der sich von der Gruppe abnabeln wollte, nicht mehr da ist, sich selbst in die Luft sprengte? Im Video kämpft sich seine Geliebte durch einen Schilfdschungel, allein. Der Song endet, das Stück auch.
Nach der Vorstellung, eine Diskussion. Aus dem Publikum der Zuruf: »Ach, Scheiß-Weltuntergang – das ist eine Reality-Show.«