Der Autor, Jahrgang 1943, war 33 Jahre lang Abgeordneter der CDU im Deutschen Bundestag, von 1988 bis 1992 Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung und von 1994 bis 2000 Vizepräsident der KSZE/OSZE. Er führte Gespräche und Verhandlungen auf Regierungsebene in verschiedenen Ländern. 1988 erlebte Willy Wimmer das Tauwetter zwischen West und Ost nach Beendigung des Kalten Krieges. Beim CIA in Langley erfuhr er von einem Wechsel der Politik und dass die damalige Sowjetunion rein defensive Absichten im Rahmen des Warschauer Pakts verfolge, der kurz darauf aufgelöst wurde.
Doch es kam nicht zugleich zu einer Auflösung der NATO zugunsten eines gesamteuropäischen Verteidigungsbündnisses unter Einbeziehung der Russischen Föderation, wie man hätte erwarten können. Vielmehr vollzogen die Vereinigten Staaten schon 1991 erneut eine Kehrtwende, nämlich hin zu einer Fortsetzung der Aggressionspolitik mit Hilfe der von ihnen gesteuerten NATO.
Im Mai 2000 nahm der Autor an einer Konferenz in Bratislava teil, wo die Führungsspitze des US-Außenministeriums den anwesenden Regierungschefs das neue Strategie-Konzept vorstellte. Und Wimmer glaubte seinen Ohren nicht trauen zu können: Die Vertrags- und Bündnisverbindungen zwischen Washington und den Staaten Mittel- und Osteuropas seien künftig so zu gestalten – so wurde vorgetragen –, dass zwischen den baltischen Staaten und dem ukrainischen Odessa eine »rote Linie« gezogen werde. Östlich davon befinde sich die Russische Föderation, westlich der Linie sei alles amerikanisch bestimmt. Weiter hieß es, auch die Rechtsordnung sei von dieser Regelung betroffen, »die von nun an über das Statut zum Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag mit seinen angelsächsischen Rechtsgrundsätzen aus der jahrhundertelangen Bindung Kontinentaleuropas an die römische Rechtstradition gelöst und umgebaut werden solle«.
Wimmer schreibt weiter: »Fortan gab es einen ›Rechtsanspruch auf Beitritt zur NATO‹ bei den Staaten, die in enger Abstimmung mit den Vereinigten Staaten standen. Keiner fragte, ob das überhaupt in unserem Interesse war.« Der völkerrechtswidrige Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien 1999 war dann nach Wimmers Ansicht der erste entscheidende Schlag gegen die europäische Friedensordnung; der zweite Schlag sei der Ausstieg Großbritanniens aus der EU gewesen. Wimmer: »Mit der britischen Entscheidung wird der gemeinsame europäische Prozess endgültig verlassen, zugunsten eines britischen Sonderstatus. Großbritannien kehrt zu seiner Rolle zurück, die seit dem Wiener Kongress 1813/14 davon bestimmt war, gegen den Friedenswillen kontinentaleuropäischer Staaten seine Interessen auf dem Kontinent unter Einschluss von Kriegen durchzusetzen.«
Danach war das Referendum in Großbritannien also die logische Konsequenz der Konferenz von Bratislava mit der Ankündigung, Europa im US-amerikanischen Interesse erneut teilen zu wollen. Dazu schreibt Wimmer: »Mit dem Ergebnis wird die innereuropäische Tendenz der Loslösung von Brüssel zugunsten engster Zusammenarbeit mit den USA seitens der baltischen Staaten, Polens, Rumäniens und Bulgariens verstärkt und damit das Europa der Europäischen Union de facto gegen die Russische Föderation militärpolitisch in Stellung gebracht. Sollten die bislang neutralen Staaten in die NATO inkorporiert werden, sind die amerikanischen Kriegsvorbereitungen in Europa abgeschlossen.«
Sein zutiefst beunruhigendes Fazit bereits im Vorwort des Buches: »Das Ende des Kalten Krieges sollte Europa eine friedliche Zukunft garantieren. Heute müssen wir sehen, dass wir einem neuen Weltkrieg und der Zerstörung unserer Länder so nah sind wie seit 1945 nicht mehr. Die NATO, wir und unsere Partner in diesem Bündnis haben unermessliches Leid über Nachbarregionen gebracht, und das Elend drängt nun über unsere Grenzen.«
Zum sogenannten Brexit schreibt Wimmer: »Mit dem EU-Austritt verlässt Großbritannien das große europäische Friedensprojekt, es ist nicht mehr an die Friedenspflicht untereinander gebunden. Der britische Imperialismus hat sich in seinem Kerngebiet England wieder manifestiert, und es wird zum Schaden Europas sein, was uns jetzt bevorsteht.«
Zur »Migrationswelle seit Sommer 2015« äußert sich Wimmer wie folgt: »Mit dem unkontrollierten Zuzug von Hunderttausenden Migranten und der Entscheidung, die in Deutschland und in EU-Europa bestehenden Rechtsregeln zum Schutz der eigenen Grenzen außer Kraft zu setzen, wurde ein völlig rechtloser Zustand geschaffen.« Und er geht auf die Rolle der USA dabei ein, deren Monopolanspruch einen blutigen Preis verlangt habe: »Die Kriegsregionen sind weitgehend zerstört, die Lebensgrundlagen der Menschen nachhaltig vernichtet. Millionen haben sich auf die Flucht begeben und fragen auf dem Weg durch Europa niemanden nach einer Erlaubnis.«
Weitere Kapitel des Buches behandeln die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, die Integration der NVA in die Bundeswehr, den Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus Deutschland sowie Kontakte in die USA, nach Russland und Polen, an denen Willy Wimmer beteiligt war. Im Anhang befinden sich dann eine lesenswerte Denkschrift von 1989 an Bundeskanzler Helmut Kohl über die NATO-Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlands (aus damaliger CDU-Sicht) sowie Auszüge aus einer Pressekonferenz des russischen Präsidenten Wladimir Putin von 2014, in denen wesentliche Aussagen zum Bemühen Russlands um ein partnerschaftliches Verhältnis zum Westen enthalten sind.
Der Publizist und politische Beamte im Ruhestand, Willy Wimmer, berichtet in der »Akte Moskau« als Beteiligter und Zeitzeuge über die Entwicklung deutscher, europäischer und US-amerikanischer Politik von 1988 bis zur Gegenwart und analysiert die aktuelle politische Situation. Es wäre zu wünschen, dass sich auch Politiker und Journalisten auf diese Überlegungen einließen.
Willy Wimmer: »Die Akte Moskau«, Verlag zeitgeist Print & Online, 324 Seiten, 24,80 €. Von Wolfgang Bittner erschien soeben im Westend Verlag das Buch »Die Abschaffung der Demokratie«. Das Buch enthält eine wunderbare Sammlung satirischer und polemischer Texte des Autors aus vier Jahrzehnten (217 Seiten, 16 €).