Bert Brecht reagierte wütend, als ahnungslose Kritik eine »erschütternde Lebenskraft des Muttertiers« in seiner »Mutter Courage« entdecken zu müssen glaubte (Ossietzky 3/2017). Schon früher hatten Kunstkritiker in den Bildern von Paula Modersohn-Becker den »gemalten Schrei nach dem Kinde« sehen wollen und den »weiblichen Geschmack« und das »Zartgefühl« vermisst. Dieses Festgelegtwerden auf die Mutterrolle – die Künstlerin konnte die nie ausüben, weil sie kurz nach der Geburt ihres Kindes starb. Sie wurde 1876 in Dresden geboren. Ihre Eltern zogen zwölf Jahre später nach Bremen, sie siedelte erst 1898 ins nahe Worpswede über, mit dessen Künstlergruppe sie noch immer identifiziert wird. Das Hamburger Bucerius Kunst Forum will das ändern mit der Ausstellung: »Paula Modersohn-Becker. Der Weg in die Moderne« (bis 1. Mai). Schon letztes Jahr wurde Modersohn-Becker in Paris als Wegbereiterin in die neue Zeit vorgestellt. Sie entfremdete sich immer mehr dem bodenständigen Worpswede, ihr wurde »alles zu eng«. Viele Reisen führten sie zu Ausstellungen, Galerien und Künstlern. Nach Paris fuhr sie viermal, 1906 für über ein Jahr Aufenthalt. Paula Becker fand immer Wege, sich auszubilden, bei privaten Akademien. Studieren an der Kunstakademie, das gab es für Frauen in Deutschland erst ab 1919. Sie zeichnete im Louvre – manchmal dieselben Objekte, die auch Picasso auswählte. Aber sie trafen sich nie. Ihre Zeichnungen sind ein wichtiger Teil der Hamburger Ausstellung, sie machen die Entwicklung der Künstlerin deutlich, die Hinwendung zu großer Einfachheit, ja Abstraktion. Von den Worpsweder Malerkollegen entfernte sie sich mehr und mehr. Dennoch heiratete sie 1901 Otto Modersohn. Seine dreijährige Tochter aus erster Ehe wurde eines ihrer vielen Kindermodelle.
Die von Uwe M. Schneede und Katharina Baumstark kuratierte Ausstellung legt das Schwergewicht auf den avantgardistischen Stil im Spätwerk der Künstlerin. Hier finden sich überraschende Parallelen zu Bildern von Picasso und Matisse. Vor allem bei den Porträts zeigt sich die Entwicklung vom Realismus zu expressivem Ausdruck, bis zu dem, was später Kubismus genannt wurde. Wenn die Künstlerin Birken malte, so erscheinen sie wie Individuen, keine Staffage in der Landschaft. Erschreckend ihre realistischen Porträts, so das »Brustbild einer Frau mit Mohnblumen« (um 1898). Nicht nur das schwarze Kleid, das Gesicht der Frau halbverschattet, verhärmt, der Mund fest zugepresst, die Augen ins Leere starrend – das zusammen mit den verwelkenden Mohnblumen: ein Bild des Todes. Die Malerin hat sich ihre Modelle oft aus dem Armenhaus geholt. Wie – auf mehreren Gemälden – die alte »Dreebeen«, die am Stock gehen muss. Von 1903: »Die sitzende Dreebeen mit Glaskugel«. Sie kauert da wie eine Erdmuhme, der Rock mit der Landschaft verwachsen. Das Gesicht, vom Hut halb verdeckt, die Hände geballt. Als Malgrund diente Pappe. Auf Leinwand: der »Kopf eines blonden Mädchens mit Strohhut« (um 1904). Ganz realistisch sehen die blauen Augen ernst, fast durchbohrend den Betrachter an, verfolgen ihn durch den Raum. Ein Bild der Schwesterlichkeit: die beiden, sich umarmenden Mädchen. Oft sind diese Mädchenbildnisse verrätselt, so jenes mit »Gespreizter Hand vor der Brust« (um 1905), ein Geheimzeichen? Einige lassen an Bilder von Gauguin denken – Paula Modersohn-Becker kannte Gemälde von ihm. Erst spät hat sie die Ausdruckskraft der Farbe für sich entdeckt. Was hätte noch entstehen können? »Elsbeth zwischen Feuerlilien« (1907) steht im blauen Kleid unter den sie überragenden Blumen, eine Hand in melancholischer Geste an der Wange. Die Konturen werden mit schwarzen Strichen betont, wie es später Max Beckmann tat. Ein Porträt von Rainer Maria Rilke (1906) – sein Blick geht aus dem Bild heraus, in ein poetisches Irgendwo.
Die vielen Selbstbildnisse waren ein Experimentierfeld für die Künstlerin. Ganz dunkel im Gegenlicht vor dem Fenster in Paris, selbstbewusst, nach vorn blickend (1900). Als »Stehender Akt mit Hut« und Orangen (1906) und das berühmte »Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag 25. Mai 1906«. Vor diffusem, grünlich getupftem Hintergrund steht sie fast nackt, ihre Hände umfassen den Bauch. Sie erscheint schwanger – was sie zu dieser Zeit noch nicht ist – sieht den Betrachter fragend an. Eine Bernsteinkette nimmt den Ton ihrer Haare und Augen auf. Der Katalog (193 Seiten, Hirmer Verlag, 29 Euro) verrät, dass sie das »M« ihrer Bildsignatur unsichtbar machte. Sie lebte damals von ihrem Mann getrennt in Paris.
Dann Porträts, die an Masken denken lassen – Masken, die sie sich vors eigene Gesicht hielt, die Hand am Kinn – mehrere in der Ausstellung. Zwei Beispiele von Monotypien von 1906: auf Zeitungspapier (eine Seite mit Börsenergebnissen) und ein liniertes Blatt, die Rückseite eines Briefentwurfs an ihren Mann. Sie drückte die Seiten auf ein noch feuchtes Gemälde, bearbeitete einige Stellen. Die Augen blieben leer wie Löcher bei einer Maske. Das Ergebnis hat etwas Unwirkliches. Von dem, was ihr bevorstand, konnte sie nichts wissen: der frühe Tod kurz nach der Geburt ihrer Tochter Mathilde. Am 20. November 1907 starb Paula Modersohn-Becker an einer Embolie.