Im Berliner Ensemble kann man davon ausgehen, politisches Theater zu sehen. Nicht so streng, wie einst Erwin Piscator es gefasst hatte; immerhin standen da mindestens Brecht und seine Schüler wie andere Traditionsfelder dazwischen, die große Politik und zutiefst menschliche Geschichten mit angemessener Poetik augen- und ohrenfällig zu erzählen imstande waren – inzwischen konnten bereits zwei Generationen gelernt haben.
Ernst Toller wohl nicht mehr, der hatte bereits politischen Verstand. Seine bittere Fabel der Hochstaplerkomödie »Der entfesselte Wotan« von 1923 – da musste Toller im Festungsgefängnis Niederschönenfeld einsitzen – gibt Zeugnis. Ich schaute mir an, was Veit Schubert (Szenenbild Maria-Elena Amos) mit seiner Dramaturgin (Anika Bárdos) und dem fünfköpfigen Ensemble darzubieten hat. Es ist mit Sicherheit kein Zufall, dass dieses Stück 1923 entstanden ist. In der Folge des verlorenen Weltkrieges und der vertanen Revolution 1918/19, einer verspielten Münchner Räterepublik tummelten sich neben wenigen echten Revolutionären (die meist waren ermordet oder vertrieben worden) eine Fülle von gesinnungslosen Scharlatanen und gefährlichen Hasardeuren mit krimineller Energie auf der nationalen, teilweise internationalen Politszene. Einer davon hieß Adolf Hitler, und der hatte bereits etliche Gesinnungsgenossen um sich. Der wollte sich im November 1923 an die Macht putschen, was ihm zunächst noch misslang. Er musste sich damals üblichen demokratisch-parlamentarischen Verfahren anpassen, um seine gänzlich undemokratischen, im Gegenteil totalitär-faschistisch nationalistisch-rassistischen Ideen und Absichten durchsetzen zu können. Das und wie es gelang, ist bekannt. Wie hellsichtig-visionär unser Dramatiker war, was und wie er es kommen sah, erfahren wir aus der 1925 in Prag uraufgeführten Komödie. Was uns leichter fällt als den Zeitgenossen – wir kennen die Verläufe der Geschichte. Allerdings musste Toller Anleihen beim Mythos machen, in diesem Falle beim nordischen. Wobei ihm eine fast possenhafte Mischung mit jener irdischen Personnage aus degeneriertem Adel beziehungsweise Offiziersstand, Bankier, Kaufmann und Komödiant gelang, deren intellektuelles Antlitz Aussicht auf vernünftig-humane, sondern katastrophale Entwicklungen, gar Lösungen möglich gemacht hätte.
Die Hauptfigur ist Friseur und heißt eben wirklich Wilhelm Dietrich Wotan (Tobias Lutze), doch Gott Wotan (Samuel Simon) erscheint dann auch noch. Übrigens kam die Regie mit fünf Darstellern aus, die außer Friseur Wotan fast alle mehrere Rollen spielen und dabei Namen haben, die zwischen Fürchten und Lächerlichkeit pendeln: Gräfin Gallig (Juliane Böttger), von Wolfblitz, von Stahlfaust, (Lukas Gabriel). Eine Art Spielführer freilich negativer Art gestaltet ziemlich arglistig-wirkungsvoll Joshua Seelenbinder, seine Figur heißt Schleim. Es kommt, wie es hätte kommen müssen: Das geplante Unternehmen »Auswanderer-Genossenschaft« (bis nach Brasilien geplant) erweist sich als Betrug, das aufständische Volk zerschlägt es, Wotan kommt in Haft, wo er allerdings nicht lange zu verweilen braucht. Doch beginnt er dort, seine Memoiren unter dem Titel »Rettung Europas vor dem Untergang« zu schreiben. Er darf sich feiern, seine letztendlichen Worte sind augenzwinkernd-doppeldeutig: »Europa kann nicht untergehen, solange Wotans leben!« Das kommt einem bekannt vor. In Form grausiger Erinnerungen, wenn man es zu großen Teilen sogar noch durchlebt hat. Nur mit dem kleinen Unterschied – Europa wäre eben beinahe just an diesen Wotans – den vielen kleinen und dem Machtgroßen untergegangen. Die Aufführung war gut gemacht, doch das Grauen hat nicht gepackt. Sind wir schon so weit aus der Geschichte entrückt? Weiß man zu viel, glaubt, es sei überwunden? Ich rate zur Vorsicht – der Atlantik ist nicht unüberbrückbar, und auch Deutschland hat 67 Milliardäre.