In den dunklen Nachthimmel ragen grellweiße Teile, scharf abgegrenzt – eine aufgegebene Bauruine? Oder ist es ein Tisch für Riesen, der sich durchqueren lässt wie ein Tor und über den man laufen kann, als sei er eine Brücke? Nicht schön geschwungen, brutal wie Betonteile. Es ist das Bühnenbild (Johannes Schütz) zu »Der Kaufmann von Venedig« von Shakespeare (Übersetzung: Werner Buhss) in der Inszenierung von Karin Beier im Hamburger Schauspielhaus.
Hinten im Halbdunkel sitzt Shylock (Joachim Meyerhoff) an einem kleinen Tisch mit dem Rücken zum Publikum. Jessica, seine Tochter (Gala Othero Winter), liest. Vorn springen junge Männer etwas hektisch herum, versuchen ihren Freund Antonio (Carlo Ljubek) aufzuheitern. Eine »Prise Mescalin« vielleicht? Dann Sätze: »Jeder Mensch ist ein Kunstwerk.« Oder ein Künstler. Sie sollen suggerieren: den Sprung vom Venedig um 1596 ins Heute. Genauso Antonios Schiffe, die schöne Sachen »aus Bali« transportieren – wenn sie denn ankommen.
Portia, die reiche Erbin in Reifrock und Rüschen, schüttet alle wohlfeilen rassistischen Klischees über ihre Bewerber aus. Der Russe ist …, der Araber ist …, und der Bayer ist immer nur der Bayer. Lustig, schließlich ist es eine Komödie. Die Freier sind nicht nötig, auch nicht die Kästchenprobe – alles bekannt. Bassanio (Matti Krause) wählt das Richtige. Aber dieser Test gibt Shylock – der für einen Kredit unverzichtbar ist – die Möglichkeit, einen ausführlichen Exkurs über den Wert von Gold, Silber und Blei zu halten, über deren Bedeutung in der Kunstgeschichte. Abschweifung und immer wieder die Ansprache ans Publikum, nicht pathetisch, eher wie nebenbei. Der Kredit von 3000 Dukaten, Antonio braucht ihn für den Freund Bassanio, der mit den Bewerbern um Portia mithalten will und dem – halb versteckt – ein großes Kreuz auf der Brust baumelt. Was im Schuldschein »des Juden« steht, ist bekannt: ein Pfund Fleisch vom Körper Antonios, den Shylock schon deshalb hasst, weil er zinslos Geld verlieh. Und weil Antonio ihn bespuckte, ihm auf den Bart rotzte. »Sie nennen mich Blutsauger, aber sie brauchen meine Hilfe.« Das, was Shylock verlangt im Wortsinn: »Fleisch« von diesem Antonio, der an einen Scherz glaubt – es geht Shylock gar nicht um die Wiederbeschaffung des Geldes –, »der Jude« will Rache. Alle Vorurteile, alle diesen uralten Bilder – Karin Beier holt sie hervor und auf die Bühne. Warum? Weil sie heute schon wieder und immer noch in den Köpfen herumspuken. Und nicht nur dort. Ist das der richtige Weg? Die Wirkung: nicht abzuschätzen.
Shylocks Diener Lancelot, der Clown mit Narrenkappe, will seinen Herrn verlassen, in den Dienst Bassanios treten. Und Shylocks Tochter Jessica, auch sie will weg, Christin werden, um dazuzugehören, weg aus dem Ghetto Venedigs. Fliehen mit einem der jungen Männer, die Portia umschwärmen, mit Lorenzo (Maximilian Scheidt). Shylock ist zum Essen bei Bassanio geladen. Ein Hut wird ihm aufgedrängt, eine Brille mit Schläfenlöckchen. Karneval oder Demütigung? Er hasst Hüte, sagt er und gibt die Verkleidung an Jessica weiter. Jessica – ein Bild des Talmud-Schülers. Genau das will sie nicht. Sie übt den Aufruhr, wirft alles von oben herunter, Kleider, Kisten, Kostbarkeiten. Unten wüten Wilde im Schafsfell – oder Venezianer im Zerstörungsrausch. Wer hat da alles zerschlagen? Trommeln treiben an. Der Boden, bedeckt mit Staub, Trümmern, Papier. Schreie. Menschen in Gebetsmäntel gehüllt – das sind keine Karnevalsmasken – sitzen und liegen dazwischen. Auf einer Leiter hockt eine Gestalt mit diesem uralten Gesicht, sieht starr ins Publikum, stumm. Ich notiere einen Satz, den niemand hier sprach: »Das habt ihr gemacht.« Shylock läuft zwischen den Liegenden herum mit den Schuhen in der Hand. »Sie haben davon gewusst« – hat er es gesagt? Wen meint er? »Jessica ist weg – mein eigen Fleisch und Blut macht den Aufstand«, stammelt er.
Die Gestalt auf der Leiter wirft ihre Maske und den Gebetsmantel ab, steigt herab. Es ist Tubal (Matti Krause), er kommt aus Genua. Hat er etwas von Jessica gehört? Sie habe dort 80 Dukaten ausgegeben und einen Ring versetzt. Shylock tut so, als hätte er es erwartet. »Sie ist weg mit den Diamanten.« Denkt er nur ans Geld? Shakespeare zeichnet ihn so, und in Hamburg stellt er sich genauso dar. Auch Shylocks Freude, als er von dem untergegangenen Schiff Antonios erfährt, dem Ruin. Nun kann er Genugtuung verlangen, Rache, den Schuldschein einlösen.
Doch Joachim Meyerhoff als Shylock bleibt seltsam ruhig, fast gelassen. Auch der berühmte Monolog, in dem er sich zu rechtfertigen versucht. »Ich bin ein Jude. Hat nicht ein Jude Augen …, wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?« Bis zur Rache. »Die Bosheit, die ihr mich lehrt, die will ich ausüben …« Er vermeidet Pathos, spricht es wie eine Gleichung: hier Christ, da Jude. In der Gerichtsszene fungiert Jessica als Doge, als Christ, der die Macht hat) und der dem Juden das Leben schenkt (dem Vater).
Eine Szene in Belmont. Wer hier aufgenommen wird, trägt Reifrock oder etwas Ähnliches. Auch Antonio. Jessica versucht, in Portias Kleid zu schlüpfen. Belmont, das gelobte Land? Dort, wo 3000 Dukaten nichts bedeuten – für Portia. Dort, wo man Christ zu sein hat. Jessica verleugnete, dass sie Jüdin ist.
Antonio macht die Brust frei für das Urteil, stellt sich wie Christus hin, lächelnd. Shylock dreht das Messer in der Hand. Wir wissen, dass Antonio gerettet wird durch das listige Urteil vom Richter Portia: »Kein Tropfen Blut.« Das Kapital des Shylock – er verliert alles. Wie kann er sagen: »Ich bin zufrieden?« Das hat sich auch Alfred Polgar gefragt, von dem im Programmheft ein fiktives Plädoyer Shylocks abgedruckt ist. Da wehrt er sich, er der »Professional, wehrlos gegen Amateurdialektik« – Polgar glaubt, ein judenfeindlicher Kopist müsse das wahre Plädoyer unterschlagen haben.
Zum Schluss: Jessica, so wie sie Shakespeare nicht sah. Auf der dunklen Bühne rennt sie herum, stößt Reste der Zerstörung weg, schlägt auf den Tisch, rauft sich die Haare, schluchzt, geht weg, kommt wieder. Lädt sich den Tisch auf den Rücken, gebeugt schleppt sie sich nach hinten, schweigend. Sätze im Raum. Nicht Jessica spricht. Sie kämpft mit sich selbst, ihre Hände zittern, schlagen, ein Tanz, durch Trommeln angefacht. Der schrille Ton eines Schofar. Jessica zieht sich das schwarze Hemd über den Kopf. Flüstern von irgendwoher. Sie setzt sich an den Tisch. Jemand bringt einen Teller mit Brot, ein Glas Wasser. Sie isst, kann nicht sprechen. Wollte sich von dem Zwang befreien, Jüdin zu sein. Sie ist die Vergangenheit, die wir kennen – aber Shakespeare noch nicht.