27. Januar 1993: Der Bundestagsabgeordnete Hans Modrow, Mitglied der Gruppe der PDS/Linke Liste, ist 65 Jahre alt geworden. Er begeht den Jubiläumsgeburtstag in der Noch-Bundeshauptstadt Bonn, im Hochhaus mit dem schönen Namen »Bonn-Center«. Hier, in der achten Etage, hat die linke Abgeordnetengruppe ihr Domizil. Aus Modrows Arbeitszimmer blickt man hinunter auf den nur durch die Adenauer-Allee getrennten Flachbau des Kanzlerbungalows, besetzt von Helmut Kohl. In den politischen Auseinandersetzungen waren die Sichtverhältnisse diametral entgegengesetzt. Der Kanzler und seine Getreuen blickten von hoch oben herab auf das Häuflein der 17 Aufrechten, mehrheitlich entsandt aus dem Anschlussgebiet Ost.
In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre war Modrow, damals erster Sekretär der SED-Bezirksleitung in Dresden, in der Bundesrepublik Schritt für Schritt insgeheim zum Hoffnungsträger stilisiert worden. Mit dem Fortschreiten der Großen Friedlichen Freiheitsrevolution änderte sich das in einem rasant schnellen Tempo. Er wurde zu einem schlimmen Bösewicht, umso mehr, als er nun als Ministerpräsident der DDR für eine Vereinigung auf Augenhöhe stritt und versuchte, von der DDR zu retten, was noch zu retten war. Bei der Bodenreform zum Beispiel gelang ihm das. Die von ihm initiierte Treuhandanstalt zum Schutz des Volkseigentums wurde von der Nachfolgeregierung unter Lothar de Maizière in ihr Gegenteil verkehrt. Vor allem seitens der CDU/CSU schlug ihm blindwütiger Hass entgegen. Den Vogel schoss dabei der damalige bayrische Innenminister Edmund Stoiber ab, der sich nicht entblödete, den einst umworbenen SED-Chef des Bezirkes Dresden als »Gauleiter« zu verunglimpfen.
Doch weder Hohn noch Hass konnten Modrow in die Knie zwingen. Mutig und selbstlos vertrat er die Interessen der Bürgerinnen und Bürger des untergegangenen ostdeutschen Staates wie auch die Bürgerinteressen in der größer gewordenen Bundesrepublik. Nur allzu bewusst war ihm, dass ihn der Bundesverfassungsschutz und andere Dienste observierten. Seine dort über ihn geführten Unterlagen bekam er auch als Bundestagsabgeordneter nicht zu Gesicht. Weshalb auch? Schließlich waren es Geheimdienstakten.
Zurück zum 65. Geburtstag des Observierten: Seine engsten Mitarbeiter hatten sich, wie sie glaubten, eine humorvolle Überraschung ausgedacht. Im Bonn-Center gratulierten sie ihm auf das herzlichste, erinnerten an seinen Wunsch nach Einsicht in die über ihn gesammelten Geheimdienstberichte und beteuerten, bei ihren Nachforschungen erfolgreich gewesen zu sein. Dabei überreichten sie ihm einen dicken, schon ein wenig abgegriffenen Aktenordner, auf dem deutlich sichtbar stand: »Bundesamt für Verfassungsschutz. Betreff: Dr. Hans Modrow. Streng Vertraulich«.
Der Jubilar war verständlicherweise überrascht, nahezu irritiert und blickte gleichzeitig ungläubig auf das unerwartete Geburtstagsgeschenk. Doch als er den Aktendeckel geöffnet hatte, glitt ein Lächeln über sein Gesicht. Schon auf den ersten Blick sah er, um was für »Geheimdienstakten« es sich handelte – es war ein Gratulationsschreiben der Aktenfälscher und -beschaffer, in dem seine unbestreitbaren großen politischen Verdienste, aber auch sein anspruchsvoller und kameradschaftlicher Leitungsstil gegenüber seinen Genossen Mitarbeitern gewürdigt wurden. Angestoßen auf sein Wohl wurde nicht, auch an diesem Morgen blieb der sportliche Chef, immerhin war er Verdienter Meister des Sports, abstinent.
25 Jahre sind seitdem vergangen. Hans Modrow feierte kürzlich seinen 90. Geburtstag. Seine Geheimdienstakten konnte er trotz mehrfachen Ersuchens noch immer nicht einsehen. Nun ist die sprichwörtliche Geduld des Vorsitzenden des Ältestenrates der Linkspartei zu Ende. Er klagt vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig auf Einsicht in die über ihn geheimdienstlich gesammelten Berichte. Aus Auskünften der Bundesregierung und einem Schreiben des damaligen Bundesinnenministers Hans-Peter Friedrich (CSU) weiß er, dass er seit 1958 vom Auslandsgeheimdienst BND und seit 1965 vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet wurde.
Ausspioniert wurde er, als er ein verhältnismäßig unbedeutender FDJ-Funktionär in Berlin war und später als langjähriger Vorsitzender der SED-Bezirksleitung in Dresden. Und die Bespitzlung wurde nahtlos fortgesetzt. »Sogar 1989«, so erklärte er in einem Interview mit der Berliner Zeitung, »als mich der Westen als Hoffnungsträger in der DDR feierte, ich später Ministerpräsident der DDR wurde und ich mich mit Kohl traf, wurde ich bespitzelt.« Er möchte nicht wissen, wer ihn da ausspioniert und Berichte geschrieben habe. Er wolle aber seine Akte sehen und erfahren, worum es darin geht.
Man sollte meinen, dass dieses Verlangen nur recht und billig ist, zumal er bekanntlich auch Abgeordneter des Bundestages und später des Europa-Parlamentes war. Aber weit gefehlt, bisher wurde ihm die Einsicht verweigert. Es macht eben einen Unterschied, ob Geheimdienste eines lupenrein demokratischen Rechtsstaates wie der BRD einen Bürger ausspionieren dürfen oder ob selbiges seitens der Sicherheitsorgane eines Unrechtsstaates wie der DDR erfolgte. Während die im letzteren angelegten Akten nunmehr seit über 27 Jahren auf dem ostdeutschen Antiquitätenmarkt feilgeboten werden, böse Zungen meinen gar marktschreierisch, und dafür Jahr für Jahr 100 Millionen Euro verschleudert werden, bleiben die BND- und BfV-Akten geheime Verschlusssache, in die nicht einmal die Ausspionierten Einsicht nehmen dürfen. Sicherheitshalber haben die weisen bundesdeutschen Spionageeinrichtungen die Spionageprodukte ins Bundesarchiv ausgelagert. Dort werden sie unter Verschluss gehalten, und da sie Staatsgeheimnisse enthalten könnten, dürften sie frühestens 2027 geöffnet werden. Auch auf diesem sensiblen Gebiet bleibt Deutschland gespalten.
Hans Modrow will diese Doppelmoral, dieses Unrecht nicht hinnehmen. Und so klagt er vor dem Leipziger Gericht. Der Prozess »Dr. M. gegen die Bundesrepublik Deutschland« beginnt am 28. Februar.