Dank der Vielzahl an Gedenktagen verspricht das Jahr 2019, uns immer aufs Neue Freude zu bereiten. Der Reigen beginnt mit dem 70. Jahrestag der Gründung des Nordatlantikpaktes am 4. April. Damals gehörten zwölf Staaten der NATO an, heute sind es 29, die meisten von ihnen weit entfernt vom Atlantik gelegen. Schon heute können wir uns auf die Friedensbotschaften aus diesem Anlass freuen. Wenig später, am 23. Mai, feiert die freiheitlich-demokratische Bundesrepublik Deutschland ihr 70-jähriges Bestehen. Via Fernsehen können wir endlich und mehrfach den Gründungsvater des Staates, den »besten Deutschen« (Umfrage des ZDF von 2003) und Autor des Spruches »Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern«, Konrad Adenauer, wiedersehen. Der 70. Jahrestag der Gründung des Unrechtstaates DDR am 7. Oktober wird verständlicherweise nur am Rande Erwähnung finden. Ganz im Gegensatz zum 30. Jubiläum des Falls der Mauer am 9. November. Die Deutschen können es gar nicht erwarten, endlich wieder einmal in einer Dauerschleife die Bilder der überglücklichen, bald darauf vom SED- und Stasijoch befreiten ostdeutschen Landsleute beim ersten Überqueren der Grenze zu genießen. Wie es den Glückskindern in den Folgejahren des Aufbaues Ost ergangen ist, davon werden wir weitgehend verschont bleiben. Natürlich gibt es 2019 auch noch manch andere Gedenktage, die in zahlreichen Übersichten aufgelistet sind. Ein Jubiläum wird man darin nicht finden: den 20. Jahrestag des Beginns des siegreichen Luftkrieges der NATO gegen Jugoslawien. Das ist umso bedauerlicher, da deutsche ECR- und Recce-Tornados in der ersten Staffel flogen und am Rumpf das gleiche Balkenkreuz trugen wie einst die Stukas, die im April 1941 auf Befehl Hitlers über Jugoslawien herfielen und Belgrad in Schutt und Asche legten. Es wäre doch allzu schön, zu sehen und zu hören, wie bravourös unsere Luftwaffe dazu beitrug, 60 Brücken, 19 Bahnhöfe, 13 Flughäfen, 480 Schulobjekte, 365 Klöster, Kirchen, Kultur- und historische Gedenkstätten, darunter den Park des Gedenkens an die im Zweiten Weltkrieg von der deutschen Wehrmacht erschossenen 7000 jugoslawischen Bürger, zu zertrümmern oder zu demolieren. Dank der sprichwörtlichen deutschen Präzisionsarbeit der voranfliegenden Tornados gelang es den vereinigten NATO-Kräften 110 Krankenhäuser und 121 Industriebetriebe zu zerstören oder schwer zu beschädigen und über 2500 Menschen zu töten. Es war eben ein überaus erfolgreicher Krieg, in dessen Ergebnis das autonome Gebiet Kosovo aus Serbien herausgebrochen wurde. Es ist jammerschade, dass der 20. Jahrestag des Beginns des gloriosen Luftkrieges nicht umfassend gewürdigt wird und wir wohl um das Vergnügen gebracht werden, zumindest die deutschen Heldentaten noch einmal zu würdigen. Allerdings ist es nicht auszuschließen, dass in den Zentralen der Kriegsparteien doch heimlich der heroischen Leistungen der Bundesrepublik bei der Zerschlagung der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien gedacht und so manche Freudenträne verdrückt wird.
Im Hans-Dietrich-Genscher-Haus, dem Sitz der Bundesgeschäftsstelle der FDP, könnte man der diplomatischen Meisterleistungen des seinerzeitigen Außenministers Genscher gedenken, der allen dummen Warnungen, darunter des UN-Generalsekretärs de Cuéllar, zum Trotz Ende 1991 die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens durchsetzte. De Cuéllar hatte in einem Schreiben vom 14. Dezember 1991 an Genscher darauf hingewiesen, dass eine voreilige Anerkennung Sloweniens und Kroatiens in Bosnien eine explosive Situation hervorrufen könnte. Wörtlich schrieb er »Solch eine Entwicklung könnte schwerwiegende Folgen für die ganze Balkanregion haben und würde meine eigenen Bemühungen, […] die notwendigen Bedingungen für die Anwendung von friedenserhaltenden Maßnahmen in Jugoslawien zu sichern, ernstlich gefährden.« Genscher schlug die Warnung in den Wind und trug damit erfolgreich zum Ausbruch des blutigen Bürgerkrieges in Bosnien-Herzegowina und damit zur endgültigen Zerschlagung der jugoslawischen Föderation bei.
Mit ein wenig Phantasie könnte man sich auch vorstellen, dass in der Bundesgeschäftsstelle der Grünen in Berlin-Mitte insgeheim des 20. Jahrestages des Beginns der Befreiung Rest-Jugoslawiens von der Willkür der serbischen Sozialisten und des Menschenschlächters Slobodan Milošević freudevoll gedacht wird. Immerhin war es der grüne Außenminister Joseph Martin Fischer, der dem NATO-Waffengang gegen Jugoslawien seinen eigentlichen Sinn gegeben hatte. Bereits 1995, als in seiner Partei eine heftige Debatte um deutsche Bundeswehreinsätze in Bosnien geführt wurde, hatte er in seinem berühmten zehnseitigen Brief an seine grünen Parteifreunde vom »Wiederauftauchen eines blutigen völkischen Faschismus«« gesprochen und die Interventionsforderung für Bosnien verteidigt. Wörtlich hatte er festgestellt: »Ich habe die Position der Interventionspflicht bei Völkermord – es ist für mich der unveräußerliche Kern des Antifaschismus und seines Vermächtnisses des ›Nie wieder Auschwitz‹ – schon immer vertreten.« Um diese fabelhafte Erklärung zu untermauern, machte Fischer die »serbische Sonderpolizei« zur »SS von Herrn Milošević« und die Albaner zu unter Schock stehenden Leuten, »weil sie denken, sie sind plötzlich im Film ‚Schindlers Liste‘ aufgewacht«. Für ihn stand außer Zweifel: »Es war ein wirklicher Schock, dass Milošević bereit war, zu handeln wie Stalin und Hitler.«
Auch im Konrad-Adenauer-Haus, der Bundesgeschäftsstelle der CDU, ist es durchaus möglich, dass am 20. Jahrestag des Kriegsbeginns heimlich, aber voller Stolz an die eigene erfolgreiche Jugoslawienpolitik gedacht wird. Stolz allein schon deshalb, da einer der ihren, der ehemalige Verteidigungsminister und Verfassungsrichter Rupert Scholz, einer der ersten war, der die Existenz des jugoslawischen Vielvölkerstaates öffentlich in Frage gestellt hatte. Auf dem im September 1991 stattgefundenen »Fürstenfeldbrucker Symposium für Führungskräfte aus Bundeswehr und Wirtschaft« hatte er festgestellt, »dass der Jugoslawien-Konflikt unbestreitbar fundamentale gesamteuropäische Bedeutung hat«, um fortzufahren: »Wir glauben, dass wir die wichtigsten Folgen des Zweiten Weltkrieges überwunden und bewältigt hätten, aber in anderen Bereichen sind wir damit befaßt, noch die Folgen des Ersten Weltkrieges zu bewältigen [...]. Jugoslawien ist als eine Folge des Ersten Weltkrieges eine sehr künstliche [...] Konstruktion.« Welch weise prophetische Worte! Sich ihrer nach der Zerschlagung dieser sehr künstlichen Konstruktion zu erinnern, ist eine wahre Wohltat für Geist und Seele.
Den meisten Anlass zum freudevollen Gedenken an den heldenhaften Luftkrieg hätte wohl die SPD-Mannschaft im Willy-Brandt-Haus. War es doch der SPD-Kanzler Gerhard Schröder, der am Abend des 24. März 1999 dem deutschen Volk den Kriegseintritt mit dem historisch einmaligen, genialen Satz mitteilte: »Wir führen keinen Krieg, aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen.« Gründe für diesen »keinen Krieg« gab es zuhauf. Am überzeugendsten formulierte sie SPD-Verteidigungsminister Rudolf Scharping. Ihm ging es darum, die Schreckenstaten der serbischen Monster zu entlarven und damit den Nicht-Krieg zu rechtfertigen. So berichtete er am 21. April 1999 vor der European Business School in Oestrich-Winkel folgendes: »Wenn ich leider sehr ernst zu nehmende Berichte höre, dass innerhalb einer Nacht ein Stadtteil Prištinas geräumt wurde, dass 3000 Menschen zusammengetrieben wurden, dass man am nächsten Tag nicht mehr feststellen konnte, wo diese Menschen waren, wohl aber Leichenberge auf dem Friedhof selbst, dann ist das ein solches Beispiel. Wenn ich höre, dass in einem kleinen Ort 28 Lehrer einer Schule aus den Klassenzimmern herausgetrieben und vor den Augen ihrer Schülerinnen und Schüler erhängt werden, dann ist das ein zweites Beispiel. Und wenn einem Flüchtlinge erzählen, und das nicht einmal, sondern mehrfach, dass man Frauen ihre Kinder aus den Armen reißt und ihre Köpfe abschneidet, um mit ihnen Fußball zu spielen, wenn ermordeten Schwangeren der Bauch aufgeschlitzt wird und der Fötus erst gegrillt und dann in den Bauch zurückgelegt wird […]. Wenn man dies alles weiß, hoffe ich, kommt jedem in Deutschland die eine oder andere Erinnerung hoch.«
Nein, die Horrorgeschichten Scharpings eignen sich nicht für ein freudevolles Gedenken an den großen Sieg. Vielleicht findet die interne Veranstaltung auch gar nicht statt, zumal die SPD sowieso gegenwärtig auf der Suche nach einem neuen Profil ist.
Alle damaligen Bundestagsparteien mit Ausnahme der PDS haben die Aggression gegen Jugoslawien befördert und unterstützt. Sie werden jedoch den Teufel tun und ihre Mitschuld an dem verbrecherischen Krieg eingestehen. Folglich ist es mehr als unwahrscheinlich, dass sie sie intern oder öffentlich in Erinnerung bringen. Gedenkveranstaltungen dieser Parteien werden wohl nicht stattfinden, die geschilderten sind imaginär. Die Zitate dagegen sind echt.