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Titel419

Das lutherische Bekenntnis zur Todesstrafe  (Hartwig Hohnsbein)

Beratungen und Beschlüsse der kirchlichen Parlamente, der Synoden, werden öffentlich kaum mehr beachtet – ein Zeichen dafür, dass bei uns die Zeit auch der »Volkskirchen« vorüber ist. Umso mehr erstaunt, dass zur Beratung einer neuen Kirchenverfassung der größten deutschen Landeskirche, der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers, zur »November-Synode 2018« über 400 Stellungnahmen eingingen. Das hängt wohl damit zusammen, dass von diesem Verfassungswerk knapp 250.000 haupt-, neben- und ehrenamtliche Mitarbeiter in Gemeinden und in der Diakonie einmal betroffen sein könnten. Bemerkenswert allerdings auch: Zum Entwurf der Präambel, in der die »Grundlagen der Verkündigung« genannt werden, gab es »insgesamt viel Zustimmung«, so dass anzunehmen ist, dass sie in der jetzigen Fassung festgeschrieben wird: Grundlagen des Bekenntnisses sollen in der Landeskirche weiterhin die »Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments« sowie ihre »Bekenntnisschriften« aus dem 16. Jahrhundert sein; dazu kommt neu hinzu die »Barmer Erklärung« von 1934.

 

Aus den »Bekenntnisschriften« hat neben dem »Kleinen« und dem »Großen Katechismus« Luthers das »Augsburger Bekenntnis« (Confessio Augustana – CA) von 1530 eine maßgebliche Bedeutung für den »Interpretationsrahmen der Verfassung«. Deshalb ist es auch im aktuellen Evangelischen Gesangbuch unter Nr. 808 zur »Einübung im Glauben« abgedruckt, damit jeder Gläubige lernt, was er zu bekennen und wie er danach zu handeln habe. Da erfährt er aus Artikel XVI »Von der Polizei und dem weltlichem Regiment« dieses: Es ist den Christen erlaubt, in staatlicher Macht »tätig sein zu können« und dabei unter anderem »Übeltäter mit dem Schwert [zu] bestrafen«. Dazu wird eingeschärft: »Hiermit werden die verdammt, die lehren, dass das oben Angezeigte unchristlich sei.« Das Bekenntnis zur Todesstrafe und deren Vollzug auch durch Christen soll bleiben wie bisher; desgleichen auch die Anordnung, die Gegner der Todesstrafe selbst dem Tode zu überantworten. Ursprünglich war in der CA die Verdammung zum Tode auf die »Wiedertäufer« gemünzt. Das waren fromme Menschen, die, gemäß dem 5. Gebot (»Du sollst nicht töten«), den Kriegsdienst, jegliche Gewalt und eben auch die Todesstrafe ablehnten, also streng nach den Weisungen Jesu lebten und gerade deshalb von Martin Luther und seinem Gehilfen Philipp Melanchthon, der die CA im Einvernehmen mit Luther verfasst hatte, gehasst und in der Folgezeit in großer Anzahl von Lutheranern in »staatlicher Macht« ermordet wurden. Das allerdings war kein »Ausrutscher« bei den Reformatoren; einen Staat ohne Todesstrafe für Abweichler konnten sie sich ab der Zeit der »Bauernkriege« 1525 gar nicht mehr vorstellen. Und so ging Luther bis zu seinem Tode 1546 immer wieder gegen alle vor, die seinen Glauben, sein Denken, seine Lebensart, seine Obrigkeitshörigkeit ablehnten. Luther stand für Todesstrafe und für Totmachen, unerschütterlich, er konnte nicht anders. »Prediger sind die allergrößten Totschläger«, so bekannte er einmal, auf sich bezogen, in einer Anwandlung von Einsicht. Dabei erinnerte er an seine Mordaufrufe gegen die aufständischen Bauern acht Jahre zuvor: »Ich habe im Aufruhr alle Bauern erschlagen [...].« Doch er wusste sogleich eine Rechtfertigung für sich, war er doch Meister in Sachen Rechtfertigungslehre: »Aber ich schiebe es auf unseren Herrgott: der hat mir befohlen, solches zu reden.« (Tischreden WATR 3, Nr. 2911b, S. 75) Damit nicht genug:

Aus solcher Selbstgewissheit seines Glaubens erwuchs auch sein mörderischer Antijudaismus, spätestens seit seinen Überlegungen zur »Judentaufe«: »Wenn ich mer ein Juden tauff, so will ich in auf die elbpruckh furen, ain stein nan hals hengen und hinab stossen und dicere: Ego te baptiso in nomine Abraham, quia non servant fidem« (1532, WATR 2. Nr. 1795, S. 217). Elf Jahre später veröffentlichte er die üble, 140 Seiten umfassende antijudaistische Hetzschrift »Von den Jüden und ihren Lügen«. Darin findet sich ein »7-Punkte-Programm« zur Vernichtung des Judentums in Deutschland, zu dem der Philosoph Karl Jaspers bemerkt: »Was Hitler getan, hat Luther geraten mit Ausnahme der direkten Tötung durch Gaskammern.« Damit immer noch nicht genug:

Den Tod forderte er auch für »Zauberinnen/Hexen«, für behinderte Kinder, die er als »Wechselkinder« aus »einem Stück Fleisch ohne Seele« bezeichnete, an denen er selbst das homicidium, die Ermordung, »wagen wollte«, für »ungehorsame« Heranwachsende, für den Papst und seine Bischöfe und die Türken sowieso, für Ehebrecherinnen, für Prostituierte, für Prediger, die nicht die amtskirchliche Predigterlaubnis erworben hatten, und sogar für Gemeindeglieder, die solche Prediger nicht bei der Obrigkeit denunzierten.

 

Zu Beginn seines öffentlichen Wirkens, 1517, war Luther ein anderer gewesen: Dadurch, dass er den jahrhundertelangen Missbrauch der »allein seligmachenden« Kirche, die finanzielle Ausplünderung ihrer Mitglieder, zum Beispiel durch die Ablasspraxis, zu einem öffentlichen Skandal machte und dazu dann die Vorstellungen von einem »Priestertum aller Gläubigen« und von der »Freiheit eines Christenmenschen« verkündete, gewann er die Mehrheit der Menschen in Deutschland. Selbst viele Fürsten stützten und schützten ihn als Verbündeten im Kampf gegen Kaiser und Papst, und die Bauern beriefen sich auf ihn und erbaten für ihre »12 Artikel« seinen Beistand im Kampf gegen die Leibeigenschaft. Ich sehe in Luthers Antwort darauf, in seiner Schrift »Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben« (Frühjahr 1525), den Wendepunkt von seiner Freiheitspredigt hin zur Obrigkeitshörigkeit, von der er schließlich, immer wieder unter Berufung auf Römer 13 (»Jedermann sei untertan der Obrigkeit«) nicht mehr lassen konnte und wollte. Nun lehrte er: Die Forderung nach Aufhebung der Leibeigenschaft sei »stracks widder das Euangelion« und: »das weltlich Reich kann nicht stehen, wo nicht Ungleichheit ist in Personen, dass etliche frei, etliche gefangen, etliche Herren, etliche Untertanen [...].« So wurde Luther zu dem größten »Totschläger«: theologisch, rhetorisch, politisch – und er forderte, dass die Todesstrafen auch real von der Obrigkeit vollzogen werden müssten. Er selbst wollte sich daran beteiligen, beispielsweise an der Verbrennung der »Hexen/Zauberinnen«.

 

Luthers Befürwortung der Todesstrafe war schon damals falsch und verwerflich, so wie sie es heute im Wortlaut in der CA Art. XVI immer noch ist! Der kann darin so nicht stehen bleiben – dachte ich. Deshalb richtete ich an die Synode meiner Landeskirche eine Eingabe zur Präambel und schrieb: »Das Bekenntnis zur Todesstrafe samt Verdammungsurteil ihrer Gegner ist, in welcher Formulierung es auch immer auftritt, in jedem Fall ersatzlos zu streichen!! Dazu fordern uns unser GG im Art. 1 und wörtlich im Artikel 102, die Europäische Menschenrechtskonvention (6. Zusatzprotokoll), vor allem aber auch die gute Botschaft Jesu auf [...]. Ermuntern zum Streichen mögen uns die Ächtung der Todesstrafe durch den Vatikan Anfang August 2018 sowie die Abstimmung in Hessen vor etwa drei Wochen, die Befürwortung der Todesstrafe aus der dortigen Verfassung von 1946 zu entfernen [...].«

 

Die Antwort darauf kam bald danach in einem dreiseitigen Brief mit dem Bescheid, »dass und warum wir Ihr Anliegen nicht weiter verfolgen können«. Genannt werden dafür »formale Gründe«, unter anderem dass »unsere Verfassung daran festhält, dass das Bekenntnis nicht Gegenstand der Gesetzgebung ist«, sowie »bekenntnishermeneutische«, wonach die »Bekenntnisschriften konsequent historisiert werden können und auf ihre damalige Intention zu befragen sind. In dem von Ihnen angesprochenen Fall gelingt es, den Wortlaut (Paulus würde sagen: den Buchstaben) als zeitbedingt zu verabschieden und trotzdem die Intention weiterhin als sinnvoll zu würdigen (Gewaltmonopol des Staates)«.

 

In einem Antwortschreiben stellte ich dazu fest: »Ihre Ausführungen haben mich insgesamt nicht überzeugt.« »Wer das Augsburger Bekenntnis aufmerksam liest, kann den Bekenntnisartikel CA XVI wenden, wie er will: Sein klarer Wortlaut sagt in der Fassung von 1530, zumal dem theologisch wenig informierten und bekenntnishermeneutisch ungeschulten Leser, unmissverständlich dieses: Unser Bekenntnis ist: ›Christen können ohne Sünde in Obrigkeit etc. tätig sein‹, ›nach kaiserlichen und anderen geltenden Rechten Urteile und Recht sprechen, Übeltäter mit dem Schwert bestrafen [...]‹« Dazu formulierte ich weiter: »Das Mindeste wäre, nach dem Vorbild des ›Reformierten Bundes‹ das zu übernehmen, was dort zu einer überholten Wendung in ihrem Bekenntnis in einer Fußnote so ausgedrückt ist: »Läßt sich nicht aufrechterhalten«. Doch auch dazu wird es wohl nicht kommen, wie ich das aus einer erneuten Antwort verstehe.

 

Bleibt noch anzumerken, dass ich in meinem Schreiben noch ausführlich auf den in der Landeskirche hochangesehenen Theologen Paul Althaus hingewiesen habe, einen Bewunderer der »deutschen Wende von 1933«, der nach 1949, als die Abschaffung der Todesstrafe durch das GG festgelegt worden war, in einem Vortrag vor der Bayerischen Akademie der Wissenschaft »Die Todesstrafe als Problem der christlichen Ethik« (1955) darauf bestand, dass sie wieder eingeführt werden müsste, weil sie »bei Luther biblisch begründet sei« und die CA sie deshalb auch befürwortete. Sie ist nach Althaus‘ Auffassung eine unverzichtbare, theologisch begründete Notwendigkeit für das Gewaltmonopol des Staates.

 

Althaus trug nicht nur dazu bei, dass in den 1960er Jahren die Todesstrafe »wieder im Vordergrund des allgemeinen Interesses stand« (Reinhart Maurach: »Die Frage der Todesstrafe«, Fischer, 1965, Vorwort), sondern er beeinflusste auch Generationen von Studenten. Seine Erkenntnisse wurden mir in den 1950er und frühen 1960er Jahren als »gut lutherisch« und deshalb als unverzichtbar anempfohlen. Auf die CA, und zwar ausdrücklich auf alle Bekenntnisteile dort in ihrem wortwörtlichen Sinne, wurde ich 1966 bei der Ordination verpflichtet, und diese Verpflichtung gilt – bis heute, Bekenntnishermeneutik hin oder her!

 

Übrigens: Anfang Januar wurde bekannt, dass der ehemalige Staatsanwalt und derzeitige AfD-Bundestagsabgeordnete Thomas Seitz über die Wiedereinführung der Todesstrafe reden will – nicht »bekenntnishermeneutisch«, sondern ganz real »als wirksame Abschreckung« (FAZ 1.1.2019), genauso wie es in den 1960er Jahren die Politiker Konrad Adenauer, Rainer Barzel und der CSU-Bundesjustizminister 1965/66 Richard Jaeger wollten und ebenfalls die NPD, die 1967 in sieben Landtagen saß und auf ihrem Bundesparteitag in Hannover die Wiedereinführung der Todesstrafe beschloss, weil nur so die Obrigkeit der Bevölkerung einen »wirksamen Schutz« gewähren könne. Bedrückend, daran zu denken, dass sich je solche Stimmen auch auf den Wortlaut in CA XVI berufen könnten.