Die Diskreditierung der Ausstellung »Willi Sitte – Fritz Cremer« in der Rostocker Kunsthalle setzte bereits vor der Eröffnung ein. Die Bild-Zeitung verstieg sich sogar dazu, an einem großen Fenster vor der Lichthalle die Schrift anzubringen: »UNSITTEN – Herr Neumann, schließen Sie diese Ausstellung!« Nichts daraus machte sich der Direktor der Kunsthalle Jörg-Uwe Neumann, der schon Werke von Künstlern wie Werner Tübke, Arno Rink, Jo Jastram und Wolfgang Mattheuer gezeigt hatte. Auf eine Umfrage der Ostsee-Zeitung »Darf man diese Kunst zeigen?« antworteten 96,3 Prozent der Befragten mit: »Ja«. Workshops liefen unter dem Titel »Motiv Mensch. Willi Sitte und Fritz Cremer im Dialog«. Sie waren gut besucht, wie auch die Veranstaltung mit dem Kunstwissenschaftler Klaus Tiedemann und der Tochter Katrine Cremer zum Thema »Künstlerische Wahrhaftigkeit – Der Bildhauer Fritz Cremer«.
In einer Veröffentlichung mit der Überschrift »Unsitte« nennt ein Autor namens Sven Hadon, Mitglied der Vereinigung der Opfer des Stalinismus, Sitte und Cremer »Proletarische Übermenschen … Sozialistische Helden … Stramme SED-Mitglieder«. Die Besucher lehnten diese Schreiberei ab, während der Historiker und Antikommunist Fred Mrotzek, Leiter einer Forschungs- und Dokumentationsstelle zur Geschichte der Diktaturen in Deutschland die Ausstellung als einen Skandal bezeichnete. Wie viel Angst muss man vor zwei genialen, weltbekannten Altmeistern haben, um sie so zu verteufeln? Hatten wir nicht schon einmal eine Zeit, die Künstler als »entartet« brandmarkte?
1993 brach der Maler Georg Baselitz den deutsch-deutschen Bilderstreit vom Zaun mit der Frage, ob Staatskunst überhaupt Kunst sei. 2012 gab es in Weimar eine unerträgliche Schau mit DDR-Kunst, die zu einem handfesten Ärgernis wurde. Jetzt setzen sich Museen wie das Barberini in Potsdam, die Moritzburg Halle, die Kunsthalle Rostock, das Albertinum in Dresden, das Staatliche Museum Schwerin und das Folkwang-Museum Essen mit dieser Kunst positiv auseinander. Der Frankfurter Kunstkritiker Eduard Beaucamp äußerte Unverständnis für die Verbotsforderungen: Das nutze »weder der Kunst noch der Gesellschaft … Diese Kunst sollte man in der Nationalgalerie zeigen.« Und der Dresdener Historiker Rehberg: »Verbieten? Das wäre absurd. Wir müssen uns damit beschäftigen.«
Der Direktor der Kunsthalle Rostock ist sprachlos, dass nach 30 Jahren noch solche Diskussionen nötig sind: »All die Bilder und Skulpturen haben ein humanistisches Menschenbild und sind einfach unfassbar gut. Außerdem zeigen wir die Kunst, nicht die Künstler.« Ich denke an das uralte Sprichwort: Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter. Irgendwie haben Leute wie Sven Hadon und Fred Mrotzek den Anschluss verpasst.
Mich hat die Rostocker Ausstellung begeistert. Es stimmt feierlich, wie Gemälde und Plastiken in einen Dialog treten. Von Willi Sitte (1921–2013) werden Frühwerke der Fünfziger- und Sechzigerjahre aus der Merseburger Sitte-Galerie gezeigt. (Die Sitte-Stiftung hat gegenwärtig Existenzprobleme.) Sittes Werke sind nach Themen geordnet. Sie weisen auf seine Vorbilder Léger und Picasso hin und sind von einer harmonischen und zurückhaltenden Farbigkeit. Sein »Pferd mit Schlange« erinnert an Picassos »Guernica«. Erschütternd: »Die Mörder von Koye« (1959). Leider ist das Triptychon »Lidice«, ein wichtiges Werk aus Sittes frühem Schaffen, verschollen; es zeigt die »Vergeltungsmaßnahme« der SS für das Attentat auf Reinhard Heydrich. 172 Lidicer Männer wurden getötet, die Frauen und Kinder ins KZ verschleppt. Eine weitere Serie beschäftigt sich mit dem Hochwasser am Po, das auch Gabriele Mucchi inspiriert hat. Die Werke »Bergung« und »Mädchen mit Schrank« überzeugen in ihrer Realistik und Expressivität. Bekannt sind Bilder zur antiken Mythologie: »Urteil des Paris«, »Danae« und »Harpyien«. In der Eingangshalle begrüßen uns stark farbige Gemälde aus späteren Schaffensphasen, darunter »Sieger«, ein Werk, das auch in der Kasseler documenta ausgestellt war. Die frühen Arbeiten zeigen eine wenig bekannte Phase im Schaffen Sittes. Seine kraftvollen Darstellungen von Liebespaaren, Sportlern, Menschen aus dem Alltag sind eher bekannt. Der einfältige Spruch: »Lieber vom Leben gezeichnet, als von Sitte gemalt« beschämt im Angesicht seines Gesamtwerks. In der Frühphase seines Schaffens war Sitte heftigen Angriffen wegen eines angeblichen Formalismus ausgesetzt. Als eigenwilliger Künstler und Mitglied der »Viererbande« (Sitte, Tübke, Heisig, Mattheuer) ist er über Ländergrenzen hinaus bekannt.
Fritz Cremer (1906–1993) verbindet mit Willi Sitte ein antifaschistisches Engagement und ein Bekenntnis zum Sozialismus. Seine Mahnmale für die Opfer des Faschismus – unter anderem das Buchenwalddenkmal von 1958 – sind weltbekannt. Auch in Ungarn und Österreich stehen seine Denkmale. Für mehr künstlerische Freiheit rief er 1964 in einer Rede zur Abkehr von der einengenden Doktrin des Sozialistischen Realismus auf; das hatte nichts mit einer Abkehr von seiner sozialistischen Haltung zu tun. Die Plastik »Aufsteigender« – ein Geschenk der DDR an die Vereinten Nationen in New York (ein Zweitguss steht vor der Rostocker Kunsthalle) – löste Diskussionen aus. Zu bestaunen sind Porträtbüsten unter anderem von Bertolt Brecht, Gabriele Mucchi und eine Statuette von Hanns Eisler. Cremers Liebe zum Menschen verkörpern Kleinplastiken wie »Mütter« oder »Sorgende Frauen«, die an Barlach erinnern. Mich begeistern auch seine sensiblen Zeichnungen, hier zum ersten Mal zu sehen.
Gemälde und Plastiken führen ein Zwiegespräch in der hervorragend konzipierten und gestalteten Ausstellung, die man sich nicht entgehen lassen sollte.
Die Ausstellung ist noch bis zum 10. März in der Kunsthalle Rostock zu sehen (Hamburger Straße 40, 18069 Rostock, geöffnet Di. bis So. 11-18 Uhr, Eintritt 12 €).