Acht Tage nachdem Hitler die Macht übergeben wurde, schrieb Carl von Ossietzky in der Weltbühne: »Sie, Herr Reichskanzler, so muß man lesen, sind der Führer einer Partei, die durch rücksichtslose antikapitalistische Propaganda in die Höhe gekommen ist. Jetzt, wo Sie oben angelangt sind, gibt es das nicht mehr. Jetzt haben Sie den Restbestand des deutschen Kapitalismus zu konsolidieren, den Großgrundbesitz zu retten, die Ansätze zur Gemeinwirtschaft wieder rückgängig zu machen.« Danach erschienen noch zwei Nummern der Weltbühne. Dann brannte der Reichstag, die Weltbühne vom 6. März erreichte nicht mehr alle Leser. Die letzte Seite enthielt den Vermerk: »Redaktion und Verlag der Weltbühne versichern den Lesern, daß sie ... alles tun werden, was im Rahmen des heute noch Möglichen liegt, um Carl von Ossietzky die Freiheit wiederzuverschaffen.«
An einer Stelle der Ossietzky-Attacke gegen den neuen Reichskanzler mögen Leser aus der Bonner Republik stutzen. Hitler als Retter des Großgrundbesitzes? Büttel des Kapitals, mag sein. Aber die Großgrundbesitzer im Osten? Das waren doch Widerstandskämpfer, Helden des 20. Juli?
Einige – auch der Junker lernt – vielleicht. Aber wenn Hitler sie nicht aus ihrem tiefen Sumpf der Korruption vor Untersuchungsausschüssen des Reichstags gerettet hätte, dann wäre erstens Hitler nicht Reichskanzler geworden, und der Weimarer Staat hätte trotz aller Klassenjustiz nicht jeden Junker – den Reichspräsidenten eingeschlossen – vor dem Gefängnis retten können.
Das beweist ein druckfrisches Buch aus dem Bremer Donat Verlag: »Der Skandal. Hindenburgs Entscheidung für Hitler« (208 Seiten, 18 €). Der Historiker Dieter Hoffmann hat die erste westdeutsche Monographie über den Kampf um die Osthilfe geschrieben, die armen Landwirten nicht weiterhalf, bankrotten Großgrundbesitzern aber weiterhin ein Leben in Saus und Braus ermöglichte.
Allein schon die Zeitabfolge ist erhellend. 1932 bei der Reichspräsidentenwahl kandidierten Hitler und Hindenburg noch gegeneinander. Dieser auch als Kandidat der SPD – man kannte sich seit der Jagd auf Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht über geheime Telefonleitungen. Undenkbar, dass der ehrbare Held von Tannenberg je den »böhmischen Gefreiten« zum Reichskanzler berufen würde. Doch dann stand Hindenburg das Wasser bis zum Hals – dieser Reichspräsident drohte im Sumpf von Korruption, im Osthilfeskandal, unterzugehen. Ein Untersuchungsausschuss des Reichstags brachte immer bedrohlichere Einzelheiten über die Geldgier der ostdeutschen Junker heraus – auch über deren besondere Beziehungen zu Hindenburg. Es stank. Aber seltsamerweise hielt sich die Reichstagsfraktion der NSDAP mehr und mehr aus den Untersuchungen heraus.
Nur Erich Ludendorff, der noch 1923 mit Hitler und der NSDAP zur Feldherrnhalle marschierte und nach dem misslungenen Putsch seinen eigenen faschistischen Verein aufmachte, berichtete in seiner Zeitschrift Die Volkswarte Ende November 1932 über die nützliche Übertragung des Gutes Neudeck an Hindenburgs Sohn Oskar. Am 6. Dezember gab es eine unangenehme Anfrage eines Zentrumsabgeordneten zur Osthilfe. Papen war drei Tage zuvor zurückgetreten – Reichskanzler war jetzt der kaum weniger intrigante Kurt von Schleicher.
Doch am 4. Januar 1933 treffen sich Papen und Hitler in Köln im Haus des Bankiers Schröder.
Am 19. Januar beantragt der Zentrumsabgeordnete Josef Ersing im Reichstag eine Untersuchung zur Osthilfe im Haushaltsausschuss.
Drei Tage später finden – jetzt eilt es – am 22. Januar Adolf Hitler und der – wie Theodor Wolff im Berliner Tageblatt das am 29. Januar schrieb – »in der Verfassung nicht vorgesehene« Sohn des Reichspräsidenten, Oskar von Hindenburg, in der Villa des späteren NS-Außenministers Joachim von Ribbentrop zueinander.
Am 25. Januar setzt der Haushaltsausschuss den Untersuchungsausschuss zur Osthilfe ein. Die Vossische Zeitung nennt 31 Verdachtsfälle, darunter Verwandte von Hindenburg.
Am 30. Januar ernennt Hindenburg Hitler zum Reichskanzler. Am 2. Februar lässt die Regierung Hitler die Osthilfeakten aus dem Reichstag abholen. Aber Hitler ist nicht einseitig. Am 22. Februar hält er in Hermann Görings Reichstagspräsidentenpalais eine Rede vor der Creme der Industrie und verlangt Geld für die bevorstehende Wahl (»es wird die letzte sein«). Die Unternehmer löhnen über zwei Millionen, und eine Woche später brennt der Reichstag.
Am 21. März 1933 reichen sich in der demnächst – wir brauchen das – wiederaufgebauten Garnisonkirche von Potsdam der Führer des neuen Deutschland und der Hüter deutscher Tradition feierlich die Hand: Einen Osthilfeskandal hat es nie gegeben.