Stephan Kettner ist 49 Jahre alt und Sozialpädagoge. Er lebt im fränkischen Bamberg, arbeitet für Attac und ist Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA). Im November wählte ihn die Bamberger Linke Liste (BaLi) zu ihrem Kandidaten für die Oberbürgermeisterwahl am 15. März. Mit Komplikationen war nicht zu rechnen. Der gebürtige Bamberger besitzt die österreichische Staatsbürgerschaft und somit als EU-Bürger das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen in Deutschland. In Deutschland? Ja – außer in Bayern. Wer im Freistaat Bürgermeister oder Oberbürgermeister werden will, muss deutscher Staatsbürger sein. Auch das schien noch kein Hindernis für die Kandidatur zu sein. Kettner beantragte die Einbürgerung, und die Stadt Bamberg sah gute Voraussetzungen, dass die Sache rechtzeitig abgeschlossen sein würde. Dann kam der »Verfassungsschutz« ins Spiel. Der muss bei einer Einbürgerung befragt werden. Kettner bekam eine lange Liste mit den Namen zahlreicher »extremistischer« oder »extremistisch beeinflusster« Organisationen vorgelegt und sollte angeben, ob er mit einer oder mehreren davon etwas zu tun habe. Kettner sah keinen Grund, seine Mitgliedschaft in der VVN-BdA zu verheimlichen – und hatte jetzt ein Problem. Ungeachtet der Tatsache, dass gegen ihn nichts vorliegt, ungeachtet des hohen Ansehens, das die VVN-BdA auch in Bamberg genießt, wurde plötzlich in Frage gestellt, ob der Kandidat die Gewähr biete, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten. Denn die VVN-BdA gilt dem bayerischen »Verfassungsschutz« als »linksextremistisch beeinflusst« (über die Bemühungen, ihr bundesweit aufgrund dieser bayerischen Einstufung die Gemeinnützigkeit zu entziehen, siehe Ossietzky 24/2019 und 3/2020). Der unter falscher Flagge agierende Geheimdienst erhob Einwände. Kettner lehnte es ab, sich wegen seiner Mitgliedschaft in einer antifaschistischen Organisation vor einem Geheimdienst rechtfertigen zu müssen. Er wird sich deshalb keiner Anhörung unterziehen. Die OB-Wahl ist damit für ihn und die Bamberger Linke Liste gelaufen. Seinen Antrag auf die deutsche Staatsbürgerschaft hält Kettner aufrecht.
Vom Adenauer-Erlass zur Regelanfrage
Dass die 1947 von Überlebenden des NS-Terrors gegründete Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) nicht nur durch Behinderung ihrer Aktivitäten als Organisation, sondern auch durch Beschneidung der Grundrechte jedes einzelnen Mitglieds bekämpft wird, hat eine lange Tradition. Schon 1950 verbannte die damalige Regierung der BRD mithilfe des sogenannten Adenauer-Erlasses VVN-Mitglieder aus dem öffentlichen Dienst. Tausende Antifaschist*innen, zum großen Teil ehemalige Widerstandskämpfer*innen und KZ-Häftlinge, flogen aus ihren Arbeitsstellen, während ehemalige NSDAP-Mitglieder, die nach der Befreiung entlassen worden waren, wieder eingestellt wurden.
Mit dem gescheiterten Versuch der Adenauer-Regierung, die VVN durch das Bundesverwaltungsgericht in Westberlin wegen »Verfassungswidrigkeit« verbieten zu lassen (1959–1962), und der Verhängung von Berufsverboten gegen Mitglieder und Unterstützer*innen der VVN beziehungsweise der VVN-BdA (Umbenennung 1971, nach der Öffnung für Antifaschist*innen ohne eigene Verfolgungsgeschichte) ging es weiter. Ohne Unterbrechung wurde jeder »beobachtet«, der mit der größten westdeutschen Verfolgtenorganisation in Verbindung gebracht wurde. Per »Regelanfrage« beim »Verfassungsschutz« wurden Mitglieder, die sich für den öffentlichen Dienst bewarben, abgewiesen.
Die Extremismus-Theorie in Aktion
Bayern war das Land, das die Praxis der Berufsverbote mit Regelanfrage am längsten beibehielt. Während im Saarland schon ab 1985 keine Regelanfrage mehr erfolgte, machte Bayern erst 1991 Schluss damit. Allerdings wurde die geheimdienstliche Überwachung nicht etwa ersatzlos gestrichen. Vielmehr wird im Freistaat seit 1991 bei jedem Bewerbungsgespräch für den öffentlichen Dienst eine »Bekanntmachung der Bayerischen Staatsregierung betr. Pflicht zur Verfassungstreue im öffentlichen Dienst (Verfassungstreue – VerftöD)« vorgelegt. Darin wird der/die Bewerber*in aufgefordert, auf einem Fragebogen anhand eines beigefügten Verzeichnisses mit rund zweihundert Namen als »extremistisch« oder »extremistisch beeinflusst« eingestufter Organisationen anzugeben, ob er/sie Mitglied einer oder mehrerer der aufgeführten Organisationen ist/war oder deren Bestrebungen unterstützt/irgendwann einmal unterstützt hat. Dasselbe oder ein ähnliches Verzeichnis wird Bewerbern um die deutsche Staatsbürgerschaft vorgelegt.
In dem Verzeichnis stehen antifaschistische Organisationen wie die VVN-BdA in einer Reihe mit faschistischen Parteien wie NPD oder »Der III. Weg«, mit Pegida sowie den rassistischen Bürgerinitiativen Ausländerstopp, mit der deutschen Division von »Blood and Honour«, mit der »Exilregierung des Deutschen Reiches«, mit der »Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige (HNG)«, mit Dutzenden anderer menschenfeindlicher Gruppen inklusive aller möglichen Terrororganisationen wie Al Kaida oder »Einladung zum Paradies«. Dem Verzeichnis liegt die grundfalsche und gefährliche Extremismus- beziehungsweise Hufeisen-Theorie zugrunde, das heißt die Vorstellung von den bösen gesellschaftlichen Rändern, die sich wie die Enden eines Hufeisens einander annähern, und der guten Mitte.
Verhängnisvolle Folgen
Gibt in Bayern ein/e Bewerber*in um eine Stelle im öffentlichen Dienst oder um die deutsche Staatsbürgerschaft an, Kontakte zu einer der in dem Verzeichnis aufgeführten Organisationen – zum Beispiel zur VVN-BdA – zu haben, gilt das als Grund für »Zweifel daran, ob er/sie jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintreten wird«. Mit den entsprechenden Folgen. Stephan Kettner wurde wegen seiner Mitgliedschaft in der VVN-BdA das Recht genommen, bei der Oberbürgermeisterwahl in seiner Heimatstadt anzutreten. Aber nicht nur auf der Ebene des einzelnen Mitglieds wirkt sich die Gleichsetzung von rechts und links verhängnisvoll aus. Antifaschistische Organisationen werden dadurch diskreditiert und in ihren Aktionsmöglichkeiten eingeschränkt. Und schließlich nimmt die Demokratie allgemein Schaden. Letzteres lässt sich exemplarisch an den Vorgängen um die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen ablesen.
Stephan Kettner lässt sich durch die Vorgänge um die OB-Wahl in Bamberg nicht entmutigen. Um einen Sitz im Stadtrat kann er sich auch als Österreicher bewerben. Die Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, die sein »Fall« geweckt hat, will er nutzen, um der Forderung nach Streichung der VVN-BdA aus dem bayerischen Verfassungsschutzbericht und aus dem Verzeichnis extremistischer Organisationen Nachdruck zu verleihen.
Die VVN-BdA Bamberg lädt ein zu der Veranstaltung »Seit 1947: Wider das Vergessen« am Freitag, 28. Februar, 19 Uhr im Restaurant »Tambosi«, Promenadestraße 8, Bamberg. Cornelia Kerth, Bundessprecherin der VVN-BdA, spricht über die Geschichte der Organisation. Weitere Informationen unter https://bamberg.vvn-bda.de