Eines der Glanzstücke deutscher Kabarettkunst war der Helmut Kohl nachempfundene Gedichtvortrag von Dieter Hildebrandt – Sie erinnern sich? Die Nummer begann so: »Der Mond, meine Damen und Herren, / und das möchte ich hier in aller Offenheit sagen, / ist aufgegangen, …« Und endete mit: »… was meine Reden seit jeher auszeichnete – / der weiße Nebel wunderbar.«
Seither hat der weiße Nebel so sehr um sich gegriffen, dass kaum noch mal ein Mond aufgeht in einer Politiker-Rede. Bezeichnend war der Ausspruch von Andrea Nahles, damals noch Vorsitzende der SPD: »Die Frage, wofür wir eigentlich stehen, ist mit neuem Selbstbewusstsein aufgeladen.« (Interview gegenüber den Zeitungen der Funke-Mediengruppe am 16.4.19) Aha, eine Frage ist mit Selbstbewusstsein aufgeladen, toll!
Und die CDU nicht anders. Frau Merkel ist immer dafür gewählt worden, dass sie zu jedem Anlass und für jeden Geschmack ein paar Floskeln drauf hat. Womit sie in die Geschichte eingehen wird: »Wir schaffen das!« Preisfrage: Hinter welchem Wort versteckt sich die Phrase? Hinter allen dreien! Denn wer ist »Wir«? Die Politiker schon mal nicht, die schaffen gar nichts. »Schaffen« heißt auch: »Gestalten«. Und mit diesen Gestalten kriegen »wir« höchstens eine Raute hin. Und »das« kann alles bedeuten: Integration oder Abschiebung.
Wer aber dachte, schlimmer kann es nicht kommen, der kannte Annegret Kramp-Karrenbauer noch nicht, passend AKK abgekürzt: das Maschinengewehr Merkels. AKK kann noch mehr Phrasen und vor allem in schnellerem Tempo. Insofern reibt man sich die Augen ob der Fernseh-»Brennpunkte« nach ihrer Rückzugsankündigung. Das können nur Krokodilstränen sein. Oder hat wirklich niemand außer mir ihre Parteitagsrede analysiert? Auf dem Parteitag der CDU in Leipzig gab die Spitzenpolitikerin anderthalb Stunden Phrasen-Schnellfeuer von sich und mähte jeden Widerstand nieder. Hier einige Ausschnitte, tatsächlich wörtlich wiedergegeben aus meiner Mitschrift, mit allen grammatikalischen – sagen wir mal – Ungenauigkeiten, denn Kramp-Karrenbauer hat die Rede nicht vom Blatt gelesen, sondern sie aus ihrem Herzen sprudeln lassen. Das wahrscheinlich schon damals voll Verzweiflung überquoll, weil es wusste, dass sie langfristig keinen Erfolg haben würde:
»Wir treffen uns heute hier zu unserem 32. Bundesparteitag, einem Parteitag, der in Leipzig stattfindet. Und das macht diesen Parteitag zu etwas Besonderem, denn Leipzig ist etwas Besonderes. […] Das war die glücklichste Stunde in der deutschen Geschichte, und ich lasse mir das von niemandem schlechtreden und von niemandem nehmen. […] Danach kam für viele Menschen die Wende. […] Ganze Biografien […], die auf einmal nichts mehr wert waren. […] Das war die Leistung der Wende. […] Es sind und es waren 14 gute Jahre für Deutschland, und darauf können wir alle miteinander stolz sein […]
Wir reden heute über die Zukunft. […] Die Zukunft ist noch nicht ausgemacht. Sie liegt in unserer Hand. […] Und wir müssen die Chancen nutzen, die im Morgen liegen. Und ob das so kommt oder nicht, das liegt ein gutes Stück an uns. Das kann passieren, muss aber nicht […] Ich möchte, dass made in Germany dafür steht, dass dieses Land, das eines der stärksten und der wichtigsten auch in der Welt ist, dass dieses Land, dass wir alle uns um die Welt kümmern, weil wir von hier aus Lösungen in die Welt geben, um Probleme zu lösen. […]
Ich will, dass wir staatliche Dienstleistungen mit einem Klick auf dem Smartphone haben […] Ich möchte, dass wir Europameister werden […] bei Genehmigungen und von Bauen […], wir müssen mehr bauen als andere. […] Ich möchte, dass Kinder in eigenen vier Wänden ihrer Familie aufwachsen können, mehr Kinder und mehr eigene vier Wände […]
Wir sind und wir haben die programmatische Kraft. Wir haben den Führungsanspruch aus unseren Werten. Und wir haben den politischen Gestaltungswillen […]
Industrie 4.0 ist in Deutschland erfunden worden […] Wer schon mal erlebt hat, wie das ist, wenn Kinder unter digitalen Mitteln mit 3D-Brillen in ihrem Klassenzimmer sitzen und auf einmal – ich hab das in Paris gesehen – mitten in Versailles stehen […], dass sie in einer virtuellen Realität durch die ganze Welt reisen können, […] das sind Kinder, die nachher andere Menschen aus anderen Ländern dieser Welt nicht hassen, […] das ist Sinn unserer Bildungspolitik. […] Dass Daten der erneuerbare Treibstoff sind, dass wir offene Schnittstellen haben, das bringt den Erfolg für die Zukunft […] Ich freue mich, wenn Tesla hier eine Fabrik in Deutschland baut, aber […] ich freue mich sehr viel mehr darüber, wenn wir mit Wasserstoff […] in einer CO2-verträglichen Situation es schaffen, dass der Verbrenner weiter in Deutschland bleibt […]
Ich lasse mich nicht in eine Schublade stecken. Ich bin konservativ, genauso gut wie ich liberal und wie ich sozial bin. Und nur wenn alle diese Flügel ihre Flügel ausstrecken können, dann werden wir als Partei auch wieder in andere Sphären fliegen können.«
Der weiße Nebel wunderbar! Allerdings müsste man für Kramp-Karrenbauer ein anderes Gedicht wählen. »Der Mond ist aufgegangen« ist zu behäbig. Dabei konnte man ja noch mitdenken! Für sie passt besser »Morgen kommt der Weihnachtsmann«, vielleicht in folgender Fassung:
»Morgen, / liebe Freundinnen und Freunde, – und wir müssen die Chancen nutzen, die im Morgen liegen – / morgen kommt / – und wir reden hier über die Zukunft, liebe Freundinnen und Freunde! – / der Weihnachtsmann, / und ich freue mich, wenn er kommt, aber noch mehr freue ich mich, wenn er mit einem deutschen Auto mit Verbrennungsmotor kommt. Das ist die Leistung der Wende und, das werden die glücklichsten Stunden der deutschen Geschichte, die ich mir von niemandem / schlechtreden lasse! Denn er / kommt mit seinen Gaben! / Und wenn dann die Kinder unter digitalen Mitteln mit 3D-Brillen virtuell plötzlich in / Versailles sind, dann brauchen sie keine / bunten Lichter, Silberzier, / sondern staatliche Dienstleistungen mit einem Klick auf dem Smartphone; / Kind und Krippe / – mehr eigene vier Wände und mehr Kinder! –, / Schaf und Stier, / offene Schnittstellen; / Zottelbär und Panthertier, / Daten als erneuerbaren Treibstoff: / Das will ich alles haben! / Ich bin konservativ, wie ich liberal bin und sozial! / Und dann werden wir als Partei auch wieder in andere Sphären fliegen können!«
Die CDU war immer die »Keine Experimente!«-Partei, die »Alles wird gut, wenn Ihr uns regieren lasst!«-Partei, die »Unser Kanzler/unsere Kanzlerin ist die Beste«-Partei, und nicht die Partei eines, wie auch immer gearteten, Programms, schon gar nicht eines Wandels. Heute spüren die Wähler, dass sich etwas wandelt, und sie wollen zumindest das Gefühl, unsere Titanic in den Händen eines guten Kapitäns zu wissen. Oder wenigstens eine gute Musikkappelle auf dem Dampfer zu haben, die den Untergang schmissig begleitet. Noch haben einige in der CDU die Illusion, dass irgendein besserer Kapitän es richten wird. Spätestens wenn BlackRock mit Friedrich Merz durchregiert, werden sie sehen, dass nicht der Kapitän geändert werden muss, sondern die Route.
Die CDU in ihrer bisherigen Form hat ausgedient, egal, wer ihre Führung übernimmt, denn der Eisberg rückt näher – und es ist kein Trost, dass er abschmilzt.