Ein zwölf Quadratmeter großes Zimmer in Amman: Decke und Wände feucht, zwei Betten, ein Schrank, ein Tisch. Zwölf Quadratmeter für zwei Erwachsene, die 47jährige Bushra und ihren Sohn Bashar, 20 Jahre alt. Beide sind aus dem Irak geflohen und leben illegal in der jordanischen Hauptstadt, ohne Aufenthaltserlaubnis, ohne gültige Papiere, ihr ganzes Leben auf diese vier Wände beschränkt. Drei Jahre schon. Draußen, auf der Straße, so fürchten sie, könnten sie verhaftet und in den Irak zurückgeschickt werden – aus ihrer Sicht geradewegs in die Hölle.
»Meinen Sohn haben sie halbtot geschlagen«, erzählt Bushra. »Sie schlugen ihn, weil er ein Christ ist, sie sagten uns, daß sie aus einer Moschee kommen und daß alle Christen Juden seien, die man umbringen muß. Mein Sohn mußte dann am Kopf operiert werden. Sie haben unser Hab und Gut verbrannt. Wir wurden vertrieben. Deshalb habe ich den Irak verlassen und bin hierher gekommen.«
Während Bushra erzählt, von ihrem früheren Leben mit einem kleinen Lebensmittelladen, als es ihr und ihrer Familie noch gut ging, heftet ihr Sohn den leeren Blick an die Wand, dorthin, wo Heiligenbildchen den blätternden Putz verdecken sollen. Bashar starrt und rührt sich nicht, wie immer, seitdem er überfallen wurde und diese Wunde am Kopf bekam.
Bad und Küche teilen sie sich mit anderen irakischen Flüchtlingen. Sie müssen Miete zahlen, aber ein Einkommen gibt es nicht, sie sind auf Spenden angewiesen. Ein bißchen Geld schickt Bushras Bruder aus Bagdad. Auch er war nach Amman geflüchtet. Noch einmal in den Irak zurückgekehrt, durfte er kein zweites Mal nach Jordanien einreisen.
Das kleine Königreich ist nicht mehr so offen wie vor kurzem noch. Der Ansturm irakischer Flüchtlinge droht das Sozialgefüge zu sprengen. 750.000 Menschen hat das Land aufgenommen, die eigene Bevölkerung zählt keine sechs Millionen. 750.000 Menschen, die Unterkunft brauchen und Essen und medizinische Versorgung und Arbeit und Schulen. Im Nachbarland Syrien fanden bis zu 1,4 Millionen Iraker Zuflucht.
Insgesamt haben nach Schätzungen des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) bisher rund 2,2 Millionen Menschen den Irak verlassen müssen, dazu kommen weitere 2,2 Millionen Binnenflüchtlinge. Weit über vier Millionen Menschen sind auf der Flucht – und die USA als Hauptverursacher dieser Katastrophe haben sich bereit erklärt, ganze 7000 Flüchtlinge aus dem Irak aufzunehmen.
Für eine Fernsehdokumentation des Westdeutschen Rundfunks zu diesem Thema, über die Christen vor allem, (»Lieber Sterben als zurück – Massenflucht aus dem Irak«) fahren wir nach Amman, erwarten großflächige Flüchtlingslager, Zeltstädte, die es nicht gibt. Stattdessen die typischen weißen zwei- oder dreistöckigen Häuser mit ihren Flachdächern, die heute eben hunderttausende Menschen mehr beherbergen, darunter Bushra und ihren Sohn, darunter auch die Familie von Antranik aus Bagdad.
Vor drei Jahren sind Eva und Antranik mit ihren beiden Kindern nach Amman geflüchtet, leben seitdem zu viert in zwei Zimmern. Ihr Erspartes ist längst aufgebraucht, die Hilfsorganisation Care unterstützt sie mit 102 Dinar im Monat. Zum Leben auf niedrigstem Niveau bräuchten sie mehr als das Doppelte. Der Krieg und seine Folgen, so erzählen sie, habe ihr Leben zerstört.
»Wir wurden mit dem Tode bedroht«, sagt die 28jährige Eva. »Sie haben uns entführt, erst meinen Mann, dann mich und meine Tochter Mariam. Sie haben uns geschlagen und gesagt, entweder ihr werdet Muslime wie wir oder wir töten euch. Innerhalb von 48 Stunden mußten wir unser Haus verlassen. Wir können nicht zurück.«
In Bagdad hatte der 33jährige Antranik als Fahrer beim Roten Kreuz gearbeitet. Nach seiner Flucht wurde auch sein Vater bedroht. Auch er mußte fliehen und ging nach Syrien. Im Exil kam ihm zu Ohren, daß inzwischen fremde Menschen sein Haus bewohnen. Um nach dem Rechten zu sehen, fuhr Antraniks Vater noch einmal nach Bagdad zurück.
»Mein Vater nahm meinen Bruder Sarkies mit«, erzählt Antranik. »Bei ihrer Ankunft in unserem Haus in Bagdad wurde mein Vater sofort mit einer Kugel getötet, und mein kleiner Bruder wurde verschleppt. Sieben Monate später rief mich ein Freund an und berichtete mir, daß mein Bruder auch tot ist, Gott hab ihn selig.«
Wer die Täter waren? Sie wissen es nicht. Antranik hat Anzeige erstattet, zeigt uns die Schreiben der Polizei, zeigt uns die Totenscheine, sagt, daß er alles belegen kann, daß sich alles so zugetragen hat, wie er es erzählt – so als würde ihm das irgendetwas nutzen im heutigen Irak, in dem sich Geschichten wie seine häufen. Pro Monat, so schätzt UNHCR, werden weitere 50.000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben – Muslime, Christen, Jesiden, keiner ist mehr sicher.
Mit ein paar Koffern landen sie dann in Amman oder Damaskus, dürfen hier eigentlich nicht bleiben, können aber auch nicht zurück. Antranik fragt uns, ob wir ihm die Einreise nach Deutschland ermöglichen können. Er weiß nichts vom deutschen Asylrecht, das mit dem Begriff Recht schon lange nichts mehr zu tun hat, weiß nicht, daß Deutschland, anstatt zu helfen, fast 20.000 irakischen Flüchtlingen das einmal zugestandene Asyl wieder aberkannt hat – einmalig in Europa und gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. Er weiß auch nicht, daß Deutschland schon in den Irak abgeschoben hat.
Also werden Antranik und seine Familie, werden Bushra und ihr Sohn weiter warten, darauf, daß ein anderes Land sie aufnimmt oder – auch wenn sie sich diese Hoffnung kaum mehr gestatten volle fünf Jahre nach dem Krieg – daß der Irak doch wieder bewohnbar wird, daß Menschen dort wieder leben können – in Frieden.