Eingespannt ins Prokrustesbett des Kalten Krieges hatte die Bonner Republik keinen Anlaß, den im Grundgesetz normierten Verteidigungsauftrag ihrer Streitkräfte extensiv auszulegen. Die exponierte Lage Deutschlands an der vordersten Front zweier sich feindselig gegenüberstehender Militärblöcke, die beide über ein Arsenal an Nuklearwaffen verfügten, das ausreichte, die Welt gleich mehrfach in eine radioaktive Wüste zu verwandeln, zwang dazu, die sicherheitspolitischen Ambitionen geographisch wie strategisch eng umgrenzt zu halten.
Noch 1982 lehnte daher Bundeskanzler Helmut Schmidt nach geheimer Sitzung des Bundessicherheitsrates eine Anfrage der Bündnisvormacht USA ab, die sich um die Entsendung von Minenräumbooten der Bundesmarine in den während des ersten Golfkrieges von Iran und Irak verminten Persischen Golf bemüht hatte. Die offizielle Begründung damals lautete, das Grundgesetz verbiete den Einsatz der Bundeswehr außerhalb des im Artikel 6 des NATO-Vertrages definierten Bündnisgebietes und beschränke ihren Aktionsradius auf die sogenannte »erweiterte Landesverteidigung« im Rahmen der nordatlantischen Allianz. Doch das war lediglich eine verfassungspolitische Aussage, deren Klugheit in Anbetracht des siedenden Konflikts zwischen den west-östlichen Antipoden außer Zweifel stand. Verfassungsrechtlich war sie nicht zu halten.
Dieser Befund bestätigte sich durchschlagend, als am 12. Juli 1994 das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe sein Grundsatzurteil betreffend den »Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit« sprach.
Vorangegangen war ein jahrelanger innenpolitischer Streit über die ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr, die bereits unmittelbar nach Ende des Kalten Krieges begonnen hatten – nicht zuletzt auf Betreiben des damals amtierenden NATO-Generalsekretärs und ehemaligen »Starfighter«-Piloten der deutschen Luftwaffe, Manfred Wörner, der für das atlantische Bündnis die schneidige Parole ausgegeben hatte: »Out-of-area or out-of-business«. Politische Leitung und militärische Führung des Bundesministeriums der Verteidigung hatten dann gleich begonnen, der Verteidigung die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik zu »normalisieren« – was nichts anders bedeutete, als die bis dato teils von außen vorgegebenen, teils selbst auferlegten Beschränkungen systematisch abzuräumen. Unter zwei Aspekten war das besonders skandalös: Zum einen vernachlässigten Regierung und Parlament ihre aus dem Prinzip des Primats der Politik resultierende ureigene Verpflichtung, den Auftrag für die deutschen Streitkräfte zu formulieren, statt dessen verschoben sie das Problem regelmäßig zum Bundesverfassungsgericht, zum anderen definierten sich parallel dazu die Militärs selbst ihren eigenen Auftrag zum Aufbau einer Interventions- und Angriffsarmee. So zitierte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel im Mai 1995 einen deutschen Luftwaffengeneral mit den Worten: »Weil 1991 politische Vorgaben fehlten, nahmen wir die militärpolitische Lagebeurteilung selbst vor und leiteten daraus einen veränderten Auftrag ab.«
Letzterer eröffnete der deutschen Wehr ganz neue Horizonte, von Kambodscha im Jahre 1993, wo unter UNO-Mandat eine Feldlazarett errichtet wurde, über das somalische Belet Uen, wo die Truppe unter afrikanischer Sonne 1993/94 ein Dreivierteljahr vergeblich auf eine indische Geister-Brigade wartete, die nie erschien, bis in die Adria, wo sich im Rahmen der »Operation Sharp Guard« Bundesmarine und -luftwaffe Mitte der 90er Jahre an der Überwachung des vom UN-Sicherheitsrat verhängten Handels- und Waffenembargos gegen Restjugoslawien beteiligten, was die damals selbst in Regierungsverantwortung stehende FDP veranlaßte das Organstreitverfahren Adria, AWACS und Somalia nach Karlsruhe zu tragen, über welches das höchste deutsche Gericht dann zu befinden hatte.
An jenem denkwürdigen Julitag bundesrepublikanischer Vorkriegsgeschichte konstatierten die Richter in den roten Roben: »Art. 87a GG steht der Anwendung des Art. 24 Abs. 2 GG als verfassungsrechtliche Grundlage für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit nicht entgegen. Nach Art. 87a Abs. 1 Satz 1 GG stellt der Bund ›Streitkräfte zur Verteidigung‹ auf; nach Art. 87a Abs. 2 GG dürfen diese Streitkräfte ›außer zur Verteidigung‹ nur eingesetzt werden, soweit das Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt. Die mannigfachen Meinungsverschiedenheiten darüber, wie in diesem Zusammenhang die Begriffe der ›Verteidigung‹ und des ›Einsatzes‹ auszulegen sind und ob Art. 87a Abs. 2 GG als eine Vorschrift zu verstehen ist, die nur den Einsatz der Streitkräfte ›nach innen‹ regeln will, bedürfen in den vorliegenden Verfahren keiner Entscheidung. Denn wie immer dies zu beantworten sein mag, jedenfalls wird durch Art. 87a GG der Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit, dem die Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 24 Abs. 2 GG beigetreten ist, nicht ausgeschlossen.«
Unzweifelhaft erlaubt es die Verfassung, deutsches Militär – bei strikter Beachtung der Normen des Völkerrechts – im Auftrag internationaler Organisationen einzusetzen, die zur Wahrung des Weltfriedens autorisiert sind. So stichhaltig dieses Argument, so problematisch der Umstand, daß das Urteil zwar prinzipiell die Verfassungskonformität sogenannter out-of-area-Einsätze der Bundeswehr bestätigte, die verfassungsrechtlich gebotene Klärung des Verteidigungsbegriffs indes nach wie vor schuldig blieb. Als schlechthin verheerend erwies sich in der Folgezeit freilich, daß die Verfassungsrichter entgegen jeglicher Evidenz die zum Zweck der kollektiven Verteidigung gegründeten Militärbündnisse NATO und WEU (Westeuropäische Union) zu Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit, wie sie allein UNO und OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) darstellten, umdeklarierten.
Der fundamentale Unterschied gehört üblicherweise zum Lehrstoff des ersten Semesters Politikwissenschaft: Ein Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit entfaltet seine Schutzwirkung unabhängig davon, ob ein Friedensbrecher ihm angehört oder nicht, richtet sich demzufolge niemals nur gegen einen oder gegen bestimmte potentielle Angreifer und verpflichtet im Falle eines Verstoßes gegen das Gebot des Gewaltverzichts durch einen Staat alle anderen Staaten zu gemeinsamer Aktion gegen den Aggressor. Dagegen beruhen klassische Militärbündnisse, die gemäß der Charta der Vereinte Nationen ausschließlich zur kollektiven Selbstverteidigung zulässig sind, auf vertraglichen Vereinbarungen zwischen souveränen Mitgliedsstaaten, die diese im Falle eines Angriffs durch einen äußeren Feind auf einen oder mehrere Bündnispartner zum gegenseitigen militärischen Beistand verpflichten. Die beiden Verteidigungsallianzen NATO und WEU hatten zwar in ihren Statuten verankert, daß sie strikt innerhalb des völkerrechtlichen Normenrahmens der Charta der Vereinten Nationen agieren würden, doch erwies sich diese Selbstverpflichtung im Falle der NATO als Muster ohne Wert.
Im Jahre 1999 nämlich führte das atlantische Bündnis, ohne daß hierzu der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine Ermächtigung erteilt hatte, einen schon deswegen völkerrechtswidrigen Aggressionskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien und besaß auch noch die Chuzpe, während der Luftkrieg tobte, zum fünfzigsten Jahrestag seines Bestehens eine novellierte Militärstrategie zu verabschieden, in der es ausdrücklich ankündigte, daß es auch fürderhin ohne UNO-Mandat militärisch zu intervenieren gedenke, wo immer und wann immer ihm das erforderlich scheint – ganz nach dem Motto: Eine Allianz »lupenreiner Demokraten« kann nicht fehlen.
Genauso gut hätten freilich die Paten der Mafia den Bankraub ex cathedra für legal erklären können.
Jürgen Roses Artikelserie zur Ächtung des Angriffskriegs (die ersten vier Beiträge erschienen in Ossietzky 1 bis 4/08) wird fortgesetzt. Der Autor, Oberstleutnant der Bundeswehr, ist aus disziplinarrechtlichen Gründen gezwungen, darauf hinzuweisen, daß er in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen darlegt.