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Michael Naumanns Wortbruch  (Otto Köhler)

Michael Naumann ist kein ganz schlechter Mensch. Er besitzt – aber nützt uns das was? – ein Gewissen, das sehr brutal mit ihm umgehen kann. Es drückte ihn gegen eine schwarze Wand, als er eine Woche vor der Wahl im Fernsehduell mit dem Gegner Ole von Beust zum Schluß sein Programm kurz zusammenfassen sollte.

»Wir Sozialdemokraten stehen für soziale Gerechtigkeit«, konnte er gerade noch sagen. Und dann brach das Blackout über ihn herein. Er stammelte, wollte Kinder abschaffen statt Kita-Gebühren, versprach sich in seinen Versprechungen, rief das höhere Wesen (»oh, Gott«) an, schaute gelähmt und hilflos, ja hilfesuchend zu Ole von Beust. Bis endlich sein Gewissen ihn aus den Klauen ließ und er in der Attacke auf den Gegner zu sich kam: »Die CDU hat die Krankenhäuser, die Immobilien, den Hafen verkauft. Wir werden dafür sorgen, daß das aufhört.«

Jetzt will er mit der CDU dafür sorgen, daß das alles so weitergeht, und bebt vor Angst, von Beust könne ihn mit den Grünen betrügen.

Mit den »Zukunftsthemen Wirtschaft und Elbvertiefung« sei die SPD viel näher an der CDU als die Grünen, so beschwor er den bisherigen Gegner öffentlich, unmittelbar bevor er am ersten Dienstag im März in einem Luxushotel am Rand der Innenstadt die Verhandlungen mit von Beust aufnahm.

Das ist Naumanns Wortbruch, bevor noch die Verhandlungen begonnen hatten. Ein Programm der sozialen Gerechtigkeit hatte er dem Wähler versprochen. Mit einer vorweggenommenen Kapitulationsurkunde, mit dem Wortbruch gegen seine eigenen Wähler, zog er in »Verhandlungen«, unterwarf er sich dem Verlierer.

Ja, er unterwarf sich ihm schon eine Woche vor der Entscheidung der Wähler. »Damit haben Sie die Wahl gewonnen«, demütigte er sich nach seinem Blackout vor Ole von Beust.

Auch nach der Wähler-Entscheidung will Michael Naumann bedingungslos die Wahl verloren haben. Doch das ist die reine und lautere Unwahrheit.

Denn Naumann ist – mit seinem Wahlprogramm der sozialen Gerechtigkeit – der Sieger der Hamburger Bürgerschaftswahl. Er kann sich im Parlament mit einer klaren rotrotgrünen Mehrheit von 65 gegen 56 schwarze Stimmen zum Ersten Bürgermeister wählen lassen. Doch vor der Verwirklichung seines Programms scheut er zurück. Darum ist es Wahlbetrug, daß er sich in der Bürgerschaft nicht zur Wahl stellen, sondern dem Verlierer Beust die Macht überlassen will.

Warum? Er mag sich von der Linkspartei nicht wählen lassen. Naumann, der sich mit dem »Strukturwandel des Heroismus« 1984 als Revoluzzer im Lampenputzfach habilitierte – im Vorwort dankte er dem CIA-Agenten Melvin J. Lasky für »Anregungen und Kritik« – kam in dieser vorbildlich akademischen Arbeit zu wichtigen Erkenntnissen: »Der proletarische Revolutionär des Marxismus, der sich erst in der Revolution als proletarischer Revolutionär erweist und sich in der Revolution qualitativ verändert, verfügt über kein brauchbares heroisches Vorbild in der Revolutionsgeschichte, das die Richtung seines eigenen revolutionären Wollens bestimmen könnte.«

Daran hielt er sich im Wahlkampf. Obwohl eine Zukunft mit der Linkspartei nicht allzu proletarisch und noch weniger revolutionär sein dürfte, sah er auch, daß das heroische Vorbild für die Bekräftigung seiner Absage kaum brauchbar sein dürfte.

Er gab also nicht das durch Barschel bekannte und verbrauchte Ehrenwort. Er gab etwas revolutionär Neues, etwas, was so radikal nicht einmal Abrahams unbedingter Opferwillen demonstriert hatte. Naumann machte sich zu seinem ­historisch einmaligen Vorbild und setzte seine gesamte eigene Nachkommenschaft auf Spiel. »Ich schwöre es bei dem Leben meiner Kinder.« So bekräftigte er, daß er mit der Linkspartei nicht koalieren, sich nicht einmal von ihr tolerieren lassen wolle.

Jetzt will Naumann, falls ihn die Grünen nicht ausstechen, als Beusts Unterbürgermeister antreten. Von dem Rechtsextremisten Roland Schill, der Beust erstmals zur Macht verhalf, unterscheidet ihn, daß der das schon vor seiner Wahl versprochen hatte.

Kind Felix aber wird, weil so sein Leben vom Papa nicht geschlachtet wird, sicherlich hilfreich sein: Es ist an der Universität Potsdam Professor für »service-oriented Information Integration«. Und es bietet seinem Papa Lebenshilfe bei der Unterordnung unter Ole von Beust: »Services constitute the building blocks of many of today’s application integration scenarios.«