Seit Jahren enden sozialpolitische Ossietzky-Artikel mit dem Refrain: Die Erwerbsarbeitszeit muß kräftig verkürzt werden, und zwar auf nicht mehr als sieben Stunden an nicht mehr als vier Tagen in der Woche, insgesamt also maximal 28 Stunden. Im vorigen Heft erwähnte Volker Bräutigam eine schon seit längerem vorliegende Studie, die angesichts des gegenwärtigen Standes der Produktivitätsentwicklung zu dem Ergebnis kommt, daß wir die 25-Stunden-Woche einführen müssen, um Vollbeschäftigung zu erreichen.
Die Krise, die in der viel zu langen Arbeitszeit der einen und der Arbeitslosigkeit der anderen eine ihrer Hauptursachen hat, bewirkt nun, daß der Ruf nach Arbeitszeitverkürzung aufgenommen und mehrstimmig verbreitet wird. Es kursieren Aufrufe für die 30-Stunden-Woche. Jetzt erreichte uns einer, der die 35-Stunden-Woche fordert. Es bewegt sich etwas. Auch sehr Ängstliche fassen ein bißchen Mut. Die Erkenntnis breitet sich aus, daß der technische Fortschritt nicht länger einseitig dem Kapital zugute kommen darf. Wenn die Produktivität ständig wächst, wenn also für die Produktion (auch für viele sogenannte Dienstleistungen) immer weniger Arbeitskraft aufzuwenden ist, dann müssen wir es als töricht und inhuman begreifen, daß die individuelle Erwerbsarbeitszeit in den vergangenen Jahren sogar wieder verlängert worden ist: Der Gesetzgeber hat die Lebensarbeitszeit für Frauen und Behinderte um fünf Jahre verlängert und setzt jetzt das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre herauf; Feiertage und Arbeitspausen wurden gestrichen, Urlaub wird gekürzt, der Krankenstand durch Druck auf die Kranken gesenkt, und viele Unternehmer verlängern die Wochenarbeitszeit aufgrund tariflicher Öffnungsklauseln, die ihnen die Gewerkschaften zugestanden haben. Wer noch einen Arbeitsplatz hat, soll schuften bis zum Umfallen oder Durchdrehen, wer keinen mehr hat, soll sehen, wo er bleibt, oder seine Arbeitskraft zu immer noch schlechteren Bedingungen anbieten.
Müssen wir uns da nicht sofort denen anschließen, die immerhin endlich zu kleinen Schritten bereit sind? Vorsicht! Wie wir sie kennen, würden sie während der Verhandlungen ihre Forderungen weiter reduzieren und am Ende schon eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit um zehn Minuten bejubeln. Selbst wenn sie ernsthaft vorhaben, zwei oder drei Jahre später ein nächstes Schrittchen zu gehen, kommen wir so nicht voran, weil ja die Produktivität weiter steigt. Die Massenarbeitslosigkeit bleibt. Vollbeschäftigung wird unerreichbar.
Die Massenarbeitslosigkeit ist (neben den Verblödungsmedien) die stärkste Waffe des Kapitals, um die Lohnabhängigen gefügig zu machen. Sie ist ein Mittel permanenter Erpressung: Wenn Ihr nicht klein beigebt und still haltet, bekommen andere Euren Arbeitsplatz, es gibt ja genug. Mit diesem Knüppel wird das Kapital die Abhängigen schlagen, solange es herrscht – es sei denn, sie erkämpften sich die Vollbeschäftigung. Dann wäre die Kapitalherrschaft entscheidend geschwächt. Weil das dem Kapital klar ist und es sich nicht entwaffnen lassen will, wird der Kampf hart sein – aber er ist notwendig.
Eine Arbeitszeitverkürzung in kleinen Schritten würde vermutlich nicht einmal zur Einstellung zusätzlicher Arbeitskräfte führen, eher zu mehr Belastung, stärkerer Ausbeutung der Beschäftigten. Die Einführung der Vier-Tage-Woche hingegen brächte unter anderem den großen Vorteil, daß viele Arbeitsplätze, je nachdem wie lange sie besetzt sein müssen, mit zwei (oder drei oder vier) einander ablösenden Arbeitskräften besetzt werden müßten.
Manche braven Gewerkschafter, die, vom Basta-Kanzler eingeschüchtert, jahrelang das Wort Arbeitszeitverkürzung gar nicht mehr in den Mund genommen haben, meinen jetzt, für ein Entgegenkommen der Unternehmer den Verzicht auf einen Teil des Lohnes anbieten zu sollen. Gefährlicher Unsinn. Es fehlt nicht an Geld. Es gibt so viel davon, daß es jetzt in der Krise vernichtet werden muß, weil die, die es besitzen, längst nichts mehr damit anzufangen wissen. Durch Vollbeschäftigung aber entsteht Kaufkraft, und es wird auch wieder viel mehr Geld in die Steuer- und Sozialversicherungskassen fließen – die Verarmung von Renten-, Kranken-, Pflege- und anderen Kassen war ja hauptsächlich eine Folge der Massenarbeitslosigkeit. Arbeitszeitverkürzung muß mit vollem Lohnausgleich einhergehen. Wenn die Beschäftigten eine Arbeitszeitverkürzung in kleinen Schritten, die ihnen nichts brächte außer größerem Streß, auch noch selber finanzieren sollten, nachdem sie in den vergangenen Jahren schon schmerzhafte Reallohnverluste erlitten haben, werden sie sie vernünftigerweise ablehnen.
Bleibt der dringend notwendige Kampf um die Verteilung der Erwerbsarbeit aus, dann drohen gerade jetzt in der Krise massenhafte Kurzarbeit, noch mehr Arbeitslosigkeit, Verarmung breiterer Schichten, Rezession mangels Nachfrage, noch mehr Pleiten, noch mehr Unsicherheit und Angst, noch mehr Krise.
Gewerkschafter, wann besinnt Ihr Euch auf das Notwendige? Die Autorität des Kapitals ist geschwächt, zumal es, außer noch brutalerer Ausbeutung, kein Konzept hat. Verschlaft die Situation nicht. Sonst wird sich Euer Mitgliederschwund fortsetzen. Und der Eures Durchsetzungsvermögens. Analysiert die Krise der 1920er, 1930er Jahre. Und handelt.