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Konstitutionelle Revolution  (Wolf Gauer)

Im Jahre 1811 erhielt Venezuela seine erste Verfassung. Als erster Staat Lateinamerikas, noch mitten im Hauen und Stechen der Befreiung von Spanien, das erst im Jahre darauf seine eigene »carta« zustande brachte. Ich schweige von Preußen und anderen deutschen Staaten, deren Verfassungen erst viel später beschlossen wurden. Zur Hochnäsigkeit gegenüber ehemaligen Kolonien besteht kein Grund.

Im Jahre 2009, am 15. Februar, errang der Präsident Venezuelas, Hugo Chávez Frias, die Stimmenmehrheit in dem von ihm initiierten Referendum zur Ergänzung der Verfassung, die 1999 schon grundlegend neugestaltet worden war, ebenfalls dank seiner Initiative. Er wurde deswegen geschmäht, von den deutschen Medien sogar mehr als von den US-amerikanischen … Doch zunächst einige Bemerkungen zum Verfassungswesen in Lateinamerika:

Bis 1900 wurden in 20 lateinamerikanischen Republiken 125 Verfassungen in Kraft gesetzt. Idealistisch, europaorientiert, häufig naiv oder parteiisch im Umgang mit der eigenen Realität, spiegelten sie den Einfluß der Oligarchien, Kirchen und kulturellen Eliten. Die Belange der indigenen Mehrheiten und ihrer Kulturen wurden übergangen – trotz deren Gewicht für das wirtschaftliche Überleben und die nationale Eigenart. Noch heute macht sich der Einfluß ausländischer, imperialistischer Interessen bemerkbar – ob man diesen nun entgegenkommt oder sich bewußt davon absetzt.

Die lateinamerikanischen Verfassungen werden nicht gerade mit heiliger Scheu als unantastbares Staatsfundament und Vermächtnis der Vorväter empfunden, auch wenn sie ein so ehrwürdiges Alter wie beispielsweise die argentinische erreichen (1853, 1994 reformiert). »Emendas« sind an der Tagesordnung, Ad-hoc-Änderungen all dessen, was gerade dem politischen Tagesinteresse entgegensteht. So erfuhr die aktuelle Verfassung Brasiliens – sie ist die achte des Landes und entstand 1988 nach der Militärdiktatur – seit 1992 nicht weniger als 57 Änderungen.

Verfassungsleitlinien und Verfassungswirklichkeit standen und stehen somit häufig in krassem Gegensatz zueinander. Vor allem dort, wo man pragmatisch ändert und liberal verwässert, statt in einer breiten gesellschaftlichen Debatte Sinn und Ausrichtung des eigenen Staatswesen neu zu definieren, wie es in Venezuela längst geschieht. Deshalb die neuerliche Häme gegenüber Hugo Chávez. Er wird in die Tradition der opportunen Verfassungsmanipulation eingereiht, obwohl gerade er ein fortschrittliches, sozialstaatliches Grundgesetz ermöglicht hat: die Bolivarische Verfassung von 1999, von Bürgerversammlungen erarbeitet und per Volksentscheid mit 86 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Der Präsident, so heißt es nun, habe an der Verfassung gerührt, um seine Wiederwahl für ewige Zeiten garantieren.

Chávez bemühte sich um die Neuformulierung der Artikel 230, 160, 162, 174 und 192, um dem Präsidenten der Republik, den Ministerpräsidenten der Länder, den Abgeordneten der Länderparlamente und der Nationalversammlung sowie den Alkalden (Bürgermeistern) die unbegrenzte Wiederwahl zu gestatten. Bislang war diese nur einmal (in direkter Folge) möglich. Alle vom Wähler bestimmten Funktionsträger können nun beliebig oft wiedergewählt werden, so wie das in Europa üblich ist, gerade auch im Lande der politischen Dauerbrenner Adenauer und Kohl. »Chávez darf bis zum Lebensende antreten« titelten die heimischen Medien. Unerwähnt bleibt, daß dies auch für die Kandidaten der starken venezolanischen Opposition gilt und daß einmal Gewählte in Venezuela ab Amtszeitmitte abgewählt werden können – direkt vom Volk, anders als in Deutschland, wo Kanzlerin Merkel nur durch ein konstruktives Mißtrauensvotum im Parlament gestürzt werden könnte.

Nach wie vor wiederholen die deutsche Bundesregierung und die freiwillig sich gleichschaltenden Medien die US-amerikanischen Verteufelung latein-amerikanischer Bemühungen um basisdemokratische Erneuerung, die per se den parasitären Interessen der USA zuwiderlaufen. Sei es nun in Kuba, Nikaragua, Bolivien, Ekuador oder Venezuela. Die Verfassung verbietet die Privatisierung der Ölindustrie und der sozialen Sicherungssysteme und fordert unentgeltliche Bildung. Sie respektiert zwar das Privateigentum, verlangt aber staatliche Nutzung brachliegender Agrarflächen. Und reine Ketzerei gegen die »westlichen Werte« ist die Erweiterung der öffentlichen Gewaltenteilung um eine breite, direkt-demokratische Partizipation der Basis in 130 der 350 Verfassungsartikel. Staatliche Entscheidungen werden den Gremien der betroffenen örtlichen Bevölkerung zugewiesen. Ähnlichen Prinzipien folgen die neuen Verfassungen der Andenstaaten Ekuador (2008) und Bolivien (2009). Sie räumen der indigenen, plurinationalen Autonomie besonderen Raum ein. Wasser und Bodenschätze sind Gemeineigentum. Privater Landbesitz ist in Bolivien auf 5000 Hektar beschränkt (s. Beitrag von Marlene Bodenmann in Ossietzky 3/09).

Venezuela sieht seine Bolivarische Verfassung nicht nur den freiheitlich-humanitären Idealen Simón Bolivars (1783–1830) verpflichtet, sondern der Idee einer grundlegend sozialen Revolution, die Schritt für Schritt verwirklicht wird und dafür Zeit und vor allem Kontinuität braucht. Und zur Kontinuität gehört das uneingeschränkte passive Wahlrecht, also die Chance, gewählt und auch wiedergewählt zu werden. US-amerikanisches Macht-Pingpong repräsentiert Privatinteresse und macht Demokratie zum leeren Formalismus ohne Alternative.

Hugo Chávez ist die Zentralgestalt der lateinamerikanischen Selbsthilfe und ihrer bisher geschaffenen Integrationsinstrumente, zu denen das Wirtschaftsbündnis ALBA, die gemeinsame Bank und der südamerikanische Fernsehsender Telesur gehören. In lapidarer Kürze resümiert der alte Fidel Castro Ruz den Erfolg des Referendums als »untrennbar« von der Zukunft Lateinamerikas.