erstellt mit easyCMS
Titel0509

Mit gekreuzten Fingern  (Jürgen Rose)

Wenn Kinder gegen ihren Willen den Eltern etwas versprechen müssen, kreuzen sie einfach ihre kleinen Finger. Dem Kinderglauben zufolge macht solche Magie das Gelübde unwirksam. Wenn ausgewachsene Regierungen ebensolche Winkelzüge auf der Bühne der internationalen Politik vollführen, nennt man dies: einen förmlichen Vorbehalt erklären. Letzteres tat die Bundesregierung, als sie beschloß, daß sich Deutschland im Falle zwischenstaatlicher Streitfragen der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofes (IGH) in Den Haag unterwirft. Sie machte zwei wesentlichen Einschränkungen, welche fundamentale Fragen von Krieg und Frieden betreffen. Zum einen will die Bundesregierung sämtliche Streitigkeiten über »die Verwendung von Streitkräften im Ausland« der Zuständigkeit des IGH entziehen. Zum anderen soll in Den Haag auch nicht über die Streitfälle entschieden werden, welche »die Nutzung des Hoheitsgebietes der Bundesrepublik Deutschland einschließlich des dazugehörenden Luftraumes sowie von deutschen souveränen Rechten und Hoheitsbefugnissen unterliegenden Seegebieten für militärische Zwecke« betreffen. Angesichts der üblichen Praxis von Völkerrechts- und Verfassungsbruch, wie sie das Kanzleramt seit der Beteiligung am Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien 1999, der Invasion Afghanistans 2001 und der Unterstützung des Aggressionsverbrechens gegen den Irak 2003 pflegt, vermag auch der mit der jetzt abgegebenen Unterwerfungserklärung unter die IGH-Jurisdiktion verbundene Rechtsbruch nicht zu überraschen.

Zwar haben auch andere Staaten in ihren Unterwerfungserklärungen Vorbehalte erklärt, wodurch stets der eigentliche Sinn und Zweck einer internationalen Gerichtsbarkeit unterlaufen, ihre Wirksamkeit verwässert wird. Gerade im deutschen Fall ist das aber äußerst problematisch, weil das Grundgesetz ganz besondere Bindungswirkungen des Völkerrechts vorschreibt. Just dies lag in der Absicht des Parlamentarischen Rates, der nach dem zweiten Weltkrieg die neue (zunächst west-)deutsche Verfassung erarbeitete. Carlo Schmid, Vorsitzender des Hauptausschusses jenes Gremiums, brachte dies während der abschließenden Beratungen unter allgemeiner Zustimmung auf den Punkt, als er erklärte: »Unser Grundgesetz verzichtet darauf, die Souveränität des Staates wie einen ›Rocher de bronze‹ zu stabilisieren, es macht im Gegenteil die Abtretung von Hoheitsbefugnissen an internationale Organisationen leichter als irgendeine andere Verfassung in der Welt; es macht die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu Bestandteilen des Bundesrechts und sieht darüber hinaus in der umfassendsten Weise den Anschluß Deutschlands an ein System internationaler Schiedsgerichtsbarkeit und kollektiver Sicherheit vor. Mit der Annahme dieser Bestimmungen wird unser Volk zeigen, daß es entschlossen ist, mit einer europäischen Tradition zu brechen, die in der ungehemmten Entfaltung der Macht des Nationalstaates den eigentlichen Beweger der Geschichte und ihren letzten Sinn sah.« Getreu diesen Maximen wurde in Artikel 24 Absatz 3 des Grundgesetzes die Verpflichtung niedergelegt, daß der Bund, um zwischenstaatliche Streitigkeiten zu regeln, »Vereinbarungen über eine allgemeine, umfassende, obligatorische, internationale Schiedsgerichtsbarkeit beitreten« wird.

Diese rigiden Festlegungen schließen die Möglichkeit aus, mittels windiger Vorbehaltserklärungen gerade diejenigen Kategorien völkerrechtlicher Streitigkeiten einer gerichtlichen Überprüfung durch den IGH zu entziehen, deretwegen in einem langen historischen Prozeß die internationale Gerichtsbarkeit hauptsächlich geschaffen wurde. Das Attribut »umfassend« impliziert nämlich, daß ohne Ausnahme alles, was zwischen Staaten streitig ist, unter die Zuständigkeit des IGH fällt. Und dies schließt zweifelsohne alle Streitigkeiten über die Rechtmäßigkeit militärischer Einsätze der Bundeswehr und der militärischen Nutzung des deutschen Staatsgebiets durch eigene oder fremde Truppen ein.

Zudem sendet die Bundesregierung mit ihrem Verhalten in einer Zeit, die ohnehin durch eine rasante und äußerst besorgniserregende Erosion völkerrechtlicher Standards geprägt ist, verheerende Signale aus. Statt vorbehaltlos das Völkerrecht, so wie es in der Charta der Vereinten Nationen kodifiziert ist, zu stärken, machen die Friedensverräter an den Schalthebeln der Macht in der Berliner Republik unmißverständlich deutlich, daß sie die juristische Auseinandersetzung um militärische Streitfragen vor dem Internationalen Gerichtshof scheuen wie der Teufel das Weihwasser – wobei sie zum Hohn auch noch die »gestiegene internationale Verantwortung Deutschlands« auf den Lippen führen. Ganz offensichtlich gedenkt, wer so handelt, auch weiterhin die Bundeswehr entgegen geltendem Völker- und Verfassungsrecht einzusetzen oder ausländischen Streitkräften deutsches Hoheitsgebiet inklusive Luft- und Seeraum für völkerrechtswidrige Aktionen zur Verfügung zu stellen.

Neben ihrem armseligen Rechtsbewußtsein offenbart die Bundesregierung damit erneut ihr erbärmliches Demokratieverständnis. Obwohl sich das Bundesverfassungsgericht schon mehrfach genötigt sah, die Verletzung der verfassungsmäßig verbrieften Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages seitens der Exekutive zu monieren, umging das Parlament sie auch dieses Mal wieder. Gemäß Artikel 59 Absatz 2 des Grundgesetzes muß der Gesetzgeber allen völkerrechtlichen Verträgen, welche die »politischen Beziehungen des Bundes« regeln und entsprechende völkerrechtliche Rechte und Pflichten begründen, qua Zustimmungsgesetz beipflichten. Solche Konsequenzen zeitigt die Unterwerfungserklärung unter die IGH-Jurisdiktion zweifellos. Indessen vereitelt der Kabinettsbeschluß vom 30. April 2008 nicht nur die von der Verfassung geforderte Beteiligung des Parlaments, sondern bezeugt auch den Vorsatz, jegliche kritische Diskussion über Völkerrecht und Kriegsbeteiligung, Bundeswehreinsätze und Grundgesetz in der demokratischen Öffentlichkeit zu unterbinden.

Jürgen Roses Artikelserie zur Ächtung des Angriffskriegs, die in Ossietzky 1/08 begann, wird fortgesetzt. Der Autor, Oberstleutnant der Bundeswehr, ist aus disziplinarrechtlichen Gründen gezwungen, darauf hinzuweisen, daß er in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen darlegt.