Idyllisch liegen am Tollensesee in der Nähe von Neubrandenburg Gut und Dorf Alt Rehse. Hier hatten die Nazis 1934 die »Führerschule der Deutschen Ärzteschaft« errichtet. Ein Kapitel, das im Dorf gern als erledigt betrachtet wird. Jetzt liegen die Ergebnisse einer Tagung des »Arbeitskreises zur Erforschung der nationalsozialistischen Euthanasie und Zwangssterilisation« im Mai 2007 in Alt Rehse in Buchform vor.
Die Rassen- und Vernichtungsideologie der Nazis war seit 1925 in Hitlers »Mein Kampf« formuliert. In diesem Sinne gründete Alfred Rosenberg 1928 den »Kampfbund für deutsche Kultur«, und ein Jahr später entstand während eines Parteitags der NSDAP als »Kampforganisation der Volksgesundheitsidee« der NS-Ärztebund, der rasch wuchs und 1934 mit der Reichsnotgemeinschaft Deutscher Ärzte verschmolz. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit bei Ärzten waren vor allem junge Ärzte leicht gegen die jüdischen Kollegen als lästige Konkurrenz zu mobilisieren.
Durch Unterwanderung der Ministerien, Behörden und Standesorganisationen konnten die Nazis im Bunde mit konservativen Politikern, Beamten und Wissenschaftlern politische und personelle Voraussetzungen für die rasche Machtausübung nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler schaffen. Im Preußischen Innenministerium waren schon 1932 »Judenlisten« angelegt worden, die im März/April 1933 beispielsweise dazu dienten, Hunderte jüdische Wissenschaftler, Ärzte und Mitarbeiter des Berliner Universitätsklinikums Charitè zu entlassen.
In kürzester Zeit wurden Gesetze zur Durchsetzung der Rassen- und Gesundheitspolitik der Nazis erlassen: am 7. April 1933 das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, am 22. April die Verordnung über die Zulassung von Ärzten bei den Krankenkassen mit dem Ziel der Vertreibung der jüdischen Ärzte. Die Zahl zugelassener jüdischer Ärzte schrumpfte von 8000 im Jahre 1933 auf 285 Ende 1938. Profiteure waren die »arischen« Ärzte, von denen nach 1936 mehr als die Hälfte der Nazipartei angehörten.
Eine Schlüsselfunktion für die Gesundheitspolitik der Nazis hatte das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« vom 14. Juli 1933. Seine Folge waren 400.000 Zwangssterilisierungen und 150.000 bis 200.000 Euthanasiemorde von 1934 bis 1945.
Für die geplante »Höherzüchtung des deutschen Volkes« brauchten die Nazis »ärztliche Führer«, die als Glieder »eines ärztlichen Führerkorps« zu diesen Verbrechen bereit waren. 1934 wurde mit dem Bau der »Führerschule« begonnen. Im Mai 1935 begannen die Schulungen.
Das Ziel der Schule charakterisierte ihr erster Leiter, SS-Standartenführer Hans Deuschl, ein Freund Heinrich Himmlers, bei der Eröffnung: »Wir national-sozialistischen Ärzte wollen die Vorkämpfer sein für neue biologische Grundsätze in Medizin und Naturwissenschaft, die auf das engste verwurzelt sind mit Blut und Boden unseres Volkes.« Die Auswahl der Kursanten wurde von den Gau- und Kreisamtsleitern des »Amtes für Volksgesundheit« getroffen. Von 1935 bis 1943 nahmen 10.000 Ärzte, darunter 2500 »Jungärzte«, an den Lehrgängen in Alt Rehse teil – jeder sechste Arzt und jeder vierte Jungarzt. Hinzu kamen 2000 Apotheker und Hebammen. Die Teilnehmer waren uniformiert, leisteten »Dienst« nach militärischem Tagesplan und wurden in »Rassenlehre« und NS-Gesundheitspolitik geschult. Die Unterrichtung in der idyllischen Umgebung empfanden die Lehrgangsteilnehmer als fruchtbare Arbeit, Erholung und »großes Aufbügeln des inneren und äußeren Menschen« (Der Jungarzt 4/37). Das Buch vermerkt die »aufdringlich gute Laune« der Schüler und Lehrer auf Fotos vom Schulleben. Ein konkreter Nachweis der Beteiligung von Kursanten an Verbrechen wird in diesem Buch nicht geführt. Herausgeber Rainer Stommer stellt lediglich fest, daß über die weiteren Karrieren wenig bekannt sei. Täterforschung sei noch zu leisten.
Aussagekräftig sind die Ergebnisse der verdienstvollen Forschungen von Anja Peters zu den Hebammenkursen in Alt Rehse. Den Hebammen war eine besonders perfide Rolle bei der Durchsetzung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses zugewiesen worden. Die Nazis präferierten Hausentbindungen (80 Prozent) und verpflichteten Schwangere zur Hinzuziehung einer Hebamme. So waren die Hebammen für Denunziantendienste geeignet und zur Meldung fehlgebildeter Säuglinge sogar ausdrücklich verpflichtet (gegen ein Salär von zwei Reichsmark). Die Ermordung von Kindern und die Zwangssterilisierungen »erbkranker« Familienangehöriger auf Grund der Meldungen sind nicht erfaßt – ein unaufgeklärtes Kapitel der Nazizeit. Zur Vorbereitung auf diesen »Dienst« wurden in Alt Rehse 700 bis 800 Hebammen geschult. Einer der Lehrer war Professor Georg Bessau, Direktor der Kinderklinik der Charité, der qualvolle Impfstoffversuche an behinderten Kindern vornahm, zum Teil mit Todesfolge. Anja Peters schlägt weitere, auch über das Jahr 1945 hinausreichende Forschungen zur Rolle der Reichsfachschaft Deutscher Hebammen vor.
Selbst der Heilkräutergarten in Alt Rehse diente der Nazipolitik. Der heimische Anbau sollte Devisen sparen. Nach dem Modell und mit Personal von Alt Rehse wurde 1938 eine Großanlage im Konzentrationslager Dachau geschaffen. Der Leser erfährt, daß auch ein Kräutergarten zur Hölle werden konnte, in der sich bereits im ersten Jahr mehr als 100 Häftlinge zu Tode schuften mußten.
Nach dem Ende der DDR erhob die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands (KVD), gegründet im August 1933 zur Kontrolle der niedergelassenen Ärzte und zur Ausgrenzung der Juden, Anspruch auf das in Volkseigentum befindliche Schulgelände, mußte aber zugunsten des Bundesvermögensamtes verzichten, wohl auch wegen der historischen Belastung des Objekts. Warum die KVD bis Ende der 1990er Jahre die Aufklärung der Geschichte der »Führerschule« ebenso blockierte wie die Aufarbeitung ihrer eigenen Nazi-Vergangenheit, darauf findet sich im Buch kein Hinweis.
Die KVD hatte 1933 vom Hartmannbund die Führung des 1932 geschaffenen Reichsärzteregisters (RAR) übernommen. Auch dies diente der Erfassung und Ausschaltung jüdischer und politisch mißliebiger Ärzte. 1955 wurde es der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin übertragen. Seine Existenz und die mögliche Nutzung waren seitdem so gut wie unbekannt.
Nach dem Beschluß der KV Berlin im Jahre 2002, ihre Rolle in der Nazizeit zu erforschen, erwiesen sich die 90.000 Karteikarten des RAR trotz einiger Lücken als ergiebige Quelle, so daß eine Liste und eine Kollektivbiographie der Berliner jüdischen Kassenärzte erstellt werden konnten. Im September 2008 wurde dann eine digitale Gedenktafel für 2063 jüdische Ärzte im Gebäude der KV Berlin eingeweiht. In der jüdischen Ethik, der Halacha, ist die Nennung des Namens des Menschen äußerst wichtig. Roman Skoblo, Vorsitzender des Bundesverbandes Jüdischer Ärzte in Deutschland, formulierte es so: »Unseren Kollegen sind ihre Namen endlich wiedergegeben worden; und uns sind mit den Namen die Kollegen wiedergegeben worden.« Nach Skoblos Auffassung ist es aber noch wichtiger, neben den Namen der Opfer auch die Namen der Täter, der Profiteure und Handlanger der Naziverbrechen zu nennen. Rebecca Schwoch und Judith Hahn betonen im Buch den Nutzen, den das Reichsärzteregister für die Aufklärung der weiteren Karrieren der Schüler der Ärzte-Führerschule bringen kann. Die wurden erst an wenigen Beispielen untersucht, doch ist noch die persönliche Verantwortung Vieler zu klären.
Die Ideologen, die die Hirne der Ärzte vergifteten, könnten als Kathedertäter bezeichnet werden. Es überrascht kaum, daß keiner von ihnen später strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurde. Der Dozent Kurt Blome, Stellvertreter des Reichsgesundheitsführers, im Nürnberger Ärzteprozeß 1946 angeklagt wegen Beteiligung an Menschenversuchen, konnte die Bedeutung von Alt Rehse verharmlosen. Hans Deuschl wurde 1948 von der Starnberger Spruchkammer vom Hauptschuldigen (Gruppe I) zum Mitläufer (Gruppe IV) herabgestuft.
Und Alt Rehse? 1995 wurde der Ort im Bundeswettbewerb um schöne Dörfer Landessieger. Die Einwohner wollen nicht gern an die Nazizeit erinnert werden. Es gibt einen Gedenkstein und ein Museum. Der »Tollense Lebenspark« (!), der das Gelände erwarb, macht das Dorf zum Wellnessort. Der Bundesverband Jüdischer Ärzte hatte die Einrichtung einer Forschungs-, Begegnungs- und Erinnerungsstätte gefordert, ohne Erfolg.
Rainer Stommer (Hg.): »Medizin im Dienste der Rassenideologie. Die ›Führerschule der Deutschen Ärzteschaft‹ in Alt Rehse«, Ch. Links Verlag, 136 Seiten, 16,90 €