Der nimmermüde Aufarbeiter des »DDR-Unrechtsstaates« und im »Gedenkjahr 2009« besonders viel beschäftigte Leiter der »Stasi-Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen«, Hubertus Knabe, ist zornig, sehr zornig sogar. Nicht nur, daß die »Verklärung der SED-Diktatur in den letzten Jahren nicht ab-, sondern zugenommen hat«, weit schlimmer noch: Im Osten unseres Vaterlandes »gibt (es) noch mehr als 600 Ernst-Thälmann-Straßen, aber keine einzige Straße der Friedlichen Revolution«. Dabei hatte er doch nach verdienstvoller und aufwendiger Recherche schon am 3. Oktober 2006, am Tag der deutschen Einheit, im Spiegel darauf aufmerksam gemacht, »daß der sozialistische Straßenalltag« in Ostdeutschland überlebt habe: ».Allein der Gründungsvater der kommunistischen Bewegung, Karl Marx, ist auf Deutschlands Straßen noch 550-mal verewigt. Sein Mitstreiter Friedrich Engels kommt auf 243 Straßen oder Plätze. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die nach einem kommunistischen Putschversuch 1919 ermordet wurden, kommen zusammen auf 596 Straßen. Absoluter Spitzenreiter ist jedoch Ernst Thälmann, der die Weimarer Republik beseitigen wollte und im Nazi-KZ getötet wurde – an ihn erinnern ganze 613 Straßen und Plätze.«
Knabes historische Kenntnisse sind wirr, aber sein Zorn ist berechtigt, denn Straßennamen sollten Aufschluß über die herrschenden politischen Verhältnisse geben. So ist es allgemein üblich. Aus persönlicher Erfahrung kann ich das nur bestätigen. Während der »SED-Diktatur« wohnte ich mit meiner Familie in Potsdam-Babelsberg in der Ernst-Thälmann-Straße, später in Berlin in der Tschai- kowskystraße, in der Albert-Schweitzer-Straße und in der Singerstraße, mit der ein von der preußischen Polizei ständig verfolgter führender Sozialdemokrat geehrt wird. Als mich die »Friedliche Revolution« zeitweilig an den Sitz des Bundestages im beschaulichen Bonn am Rhein verschlug, hatte ich dort meinen bescheidenen Zweitwohnsitz nacheinander in der Habsburger-, der Hohenzollern- und der Kaiserstraße. Eine Straße der März- oder der Novemberrevolution fand ich nicht.
Trotz Knabes Klagen hat die »Friedliche Revolution« im heimgeholten Osten die Namen vieler Straßen und Plätze verändert – die Verwandlung des Berliner Marx-Engels- zum Schloßplatz steht für Tausende von Umbenennungen –, aber sie selbst brachte es noch nicht zum Straßennamensgeber. Ein Skandal ohnegleichen. Diejenigen, die darüber enttäuscht oder wie der Recke von Hohenschönhausen wütend sind, können jedoch hoffen, daß es bald auch Straßen der Friedlichen Revolution geben wird, leben wir doch im Jubiläumsjahr, in dem mit unzähligen Konferenzen, Symposien, Wanderausstellungen, Fernsehproduktionen, Festakten und dergleichen der 20. Jahrestages der Revolution begangen wird; und diese war bekanntlich nicht nur friedlich, sondern restaurierte erfolgreich den Kapitalismus, auch wenn dieser gegenwärtig von einer klitzekleinen Systemkrise geplagt wird. Unklar ist lediglich, welchen Straßen diese Ehrung zuteil werden soll. Immerhin sollte es keine Gasse oder gar Sackgasse, keine Dorf- oder Nebenstraße, sondern eine Hauptstraße, eine Magistrale, ein bedeutender Boulevard, einfach eine Prachtstraße sein. Hier dürfte aber in einigen Fällen mit Widerstand zu rechnen sein, zum Beispiel gegen eine Umbenennung der Berliner Straße Unter den Linden. Der Leipziger Ring, auf dem tausendfach der Ruf »Wir sind das Volk« und später »Wir sind ein Volk« ertönte, scheint sich anzubieten. Aber wie klingt das schon: »Ring der Friedlichen Revolution«? Mit einem solchen Schmuckstück könnte man Rainer Eppelmann, Günter Nooke oder Wolfgang Schnur ehren. Nein, Straßen müssen es schon sein, möglichst viele.
Am einfachsten wäre es, alle 613 Straßen und Plätze, die den Namen Thälmanns tragen, durch Beschluß des Bundestages oder durch Sondererlasse der Kanzlerin oder des Bundespräsidenten in »Straßen (bzw. Plätze) der Friedlichen Revolution« umzubenennen. Doch wäre das grundgesetzkonform? Schwerlich, denn die Vergabe von Straßennamen ist immer noch Sache der Kommunen. Da wird es schwierig, langwierig, aber versuchen könnte man es, schrittweise.
Pionierarbeit könnte Hubertus Knabe selbst leisten. Immerhin verfügt er in seinem Geburtsort, in Unna, der schönen Stadt im Herzen Westfalens, über einen gewissen Bekanntheitsgrad, den er für die Umbenennung einer Straße nutzen könnte. Doch auch hier würden Hindernisse auftreten: Unna liegt nicht in Ostdeutschland, und eine Thälmannstraße gibt es auch nicht. Macht nichts! Dann nennen die Unnaer eben die nach Osten führende schmucke Hauptstraße um. Auf dieser »Straße der Friedlichen Revolution«, besser wäre freilich »Straße der Großen Deutschen Friedlichen Revolution«, könnte der phantasievolle Stasi-Gedenkstättenchef künftig gemeinsam mit Helmut Scherer demonstrieren, »Unnas einzigem Karnevalisten«, der seit 53 Jahren an Weiberfastnacht allein mit Bollerwagen das Rathaus stürmt und in einer revolutionären Großtat die »Schlüsselgewalt« übernimmt. Nur Mut, Herr Knabe, endlich würden auch Sie an einer »Friedlichen Revolution« teilnehmen, und das auf einer Straße, die den so sehnlich gewünschten Namen trägt.