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Ist die Krise vorbei?  (Manfred Sohn)

»Die Krise ist durch, es geht bergauf«, so faßte in einem Interview der Nordwest-Zeitung der niedersächsische Finanzminister Hartmut Möllring zusammen, was die tonangebenden Politiker und Publizisten gegenwärtig landauf, landab verbreiten – die selben, die nach den Ereignissen an den Finanzmärkten im Herbst 2009 aufgeregt Parallelen zum »großen Krach« 1929 gezogen und gelobt hatten, es diesmal besser zu machen, um eine Rezession zu vermeiden. Ihre gegenwärtig zur Schau gestellte gute Laune wurzelt in dem Glauben, es tatsächlich besser gemacht zu haben als die Verantwortlichen damals. Die aktuellen Wirtschaftsdaten scheinen ihnen sogar recht zu geben: Zumindest in Deutschland steigt die Arbeitslosigkeit nicht im befürchteten Maße an, und die politische Landschaft scheint ruhig.

Sie täuschen sich selbst und versuchen, uns zu täuschen. Es wäre töricht, wenn wir uns von ihnen täuschen ließen.

Wir erwarten von Angela Merkel und ihren Möllrings nicht, daß sie sich mit den reichlich vorhandenen marxistischen Analysen der damaligen Ereignisse auseinandersetzen. Es wäre schon hilfreich, wenn sie sich zwei oder drei Empfänge mit Sekt, Medien und Glitter sparen und in der gewonnenen Zeit einfach nur die von allen bürgerlichen Wirtschaftswissenschaftlern als Standardwerk anerkannte Untersuchung von John Kenneth Galbraith »The Great Crash 1929« ansehen würden, die nach ihrem ersten Erscheinen 1954 kontinuierlich Neuauflagen erlebt hat. Das Buch ist nicht nur gut geschrieben, es macht auch nachdenklich.

Das resümierende Kapitel 9, »Cause and Consequence«, beginnt mit dem schlichten Satz »Nach dem Großen Krach kam die Große Depression, die, mit unterschiedlicher Tiefe, zehn Jahre dauerte« (eigene Übersetzung; M.S.). Dieser Feststellung ist zunächst einmal zu entnehmen, daß offensichtlich »Großer Krach« und »Depression« zweierlei Dinge sind. Mit anderen Worten: Die Überwindung einer Finanz- und Börsenkrise sagt wenig darüber aus, ob und wie es gelingt, auch die Wirtschaftskrise zu überwinden. Galbraith weist darauf hin, daß die Große Depression überhaupt erst richtig begann, als der Große Krach vorüber war. Als wäre das nicht Mahnung genug, macht er im folgenden Satz darauf aufmerksam, daß »1933 das Bruttosozialprodukt (die gesamte Produktion der Ökonomie) fast ein Drittel geringer war als 1929. Erst 1937 hatte das physische Volumen der Produktion wieder das Niveau von 1929 erreicht, um dann prompt wieder zurückzufallen.« In diesen Sätzen liegen zwei Warnungen verborgen, die heute in den Jubelfanfaren, die Krise sei vorüber, gern überhört werden: Erstens folgt einem Krach, wie er hinter uns liegt, eine längere Phase ökonomischen Siechtums – wie es auch alle diejenigen annehmen, die einigermaßen seriös mit den Zahlen umgehen und daraus keine Hoffnung schöpfen, daß die Produktion in den USA, England oder Deutschland in den nächsten Jahren schon wieder das Niveau von 2008 erreichen könnte. Zweitens gibt Galbraith zu bedenken, daß in dem Moment, als die Krise überwunden schien, 1937, wieder ein herber Rückfall folgte, der übrigens endgültig erst überwunden war, als die 1940 anlaufende Kriegsproduktion die US-amerikanische Wirtschaft aus dem Tal zog.

Aber es kommt noch schlimmer. Im selben Kapitel befaßt sich der bürgerliche Ökonom Galbraith intensiv mit den Hauptschwächen, die dazu geführt hätten, daß sich der große Krach zu einer großen Depression entwickelte. Als erste dieser Hauptschwächen führt er »die schlechte Verteilung des Einkommens« an. Er rechnet vor, daß die gesamten 1920er Jahre hindurch die Reichen immer reicher und die Armen relativ immer ärmer geworden seien. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg habe sich diese Entwicklung umgedreht und zu der langen Prosperität der USA beigetragen. Wer nun Vergleiche zieht, wird feststellen: Die jetzige Krise hat die herrschenden Klassen zu keiner Änderung ihrer Umverteilungspolitik von unten nach oben bewogen. Es bleibt auch 2010 dabei: Die Reichen wollen reicher und die Armen sollen dafür ärmer werden – und damit bleibt die Hauptkrisenursache unter der scheinbar ruhigen Oberfläche bestehen und wird zum Ausbruch der nächsten Krise drängen.

Schließlich zerstört Galbraith, ohne daß er es damals in den 1950er Jahren schon hätte ahnen können, auch die selbstgefällige Illusion der Heutigen, sie hätten alles besser als damals gemacht. Ihre Argumentation geht ja ungefähr so: Damals hätten die schockierten Regierenden mit einer Sparpolitik reagiert, um die Haushalte auszugleichen – heute aber würden wir mutig mit Steuersenkungen und Konjunkturprogrammen gegensteuern, und deshalb werde das nicht wieder passieren, was damals passiert ist. Die etwas Gebildeteren weisen dann darauf hin, daß der 1933 amtierende US-Präsident Hoover durch seine Maßnahmen die Krise vertieft und erst Roosevelt, der schlaue Keynesianer, durch die Politik, die man heute weitgehend übernehme, das Ruder herumgerissen habe.

Was aber schreibt Galbraith über Hoover und dessen unmittelbare Maßnahmen im November 1929, also wenige Tage nach dem »Schwarzen Donnerstag« an der New Yorker Börse? »Mr. Hoovers erster Schritt war wie aus den späteren Werken von John Maynard Keynes entnommen. Genau wie Keynes und die Keynesianer geraten hätten, verkündete er eine Steuersenkung. Sowohl der Steuersatz für Einzelpersonen als auch der für Unternehmen wurde um einen vollen Prozentpunkt gesenkt. Das reduzierte die Einkommenssteuer für ein Familienoberhaupt ohne Kinder und bei einem Einkommen von 4000 Dollar um zwei Drittel.« Dies sei in absoluten Zahlen, führt er weiter aus, zwar nicht gravierend gewesen, er faßt dann aber zusammen: »Dieser Schritt wurde dennoch wohlwollend registriert als ein Beitrag, um die Kaufkraft zu stärken, Geschäftsinvestitionen auszuweiten und insgesamt das Vertrauen wiederherzustellen.« Der lobenswerte Schritt, der heute von Merkel und Westerwelle kopiert wird, hat, wie wir im Nachhinein wissen, wenig genutzt. Ökonomie ist entgegen dem zur Zeit verbreiteten Kalauer nicht überwiegend Psychologie, sondern überwiegend Umgang mit harten ökonomischen Fakten.

Deshalb sei hier konträr zum Eingangszitat und zur Wiedervorlage in, sagen wir, fünf Jahren, gesagt: Die Krise ist nicht »durch«, sie hat erst begonnen. Statt, wie Roosevelt es dann tatsächlich 1933 getan hat, durch eine damals 80prozentige Steuer auf alle Vermögen und die Spitzeneinkommen von oben nach unten umzuverteilen, versuchen alle Regierungen von Obama über Brown bis zu Merkel, durch Anpumpen der Reichen die unmittelbaren Krisenfolgen zu dämpfen. Sie verschulden sich weiter bei denen, welche die Krise verursacht haben, und legen Schein-Konjunkturprogramme auf, denen in weniger als einem halben Jahrzehnt die Luft ausgehen wird. Und dann, wenn sich die Krise tatsächlich entfaltet, stehen sie finanziell nackt da. Sie sollten sich jetzt schon einmal mit dem beschäftigen, was drei oder vier Jahre nach dem »Schwarzen Donnerstag« in der kapitalistischen Welt los war – um eine Ahnung davon zu bekommen, was auf sie und uns noch zukommen kann.