Für die national wie international weiterwuchernde Wirtschaftskrise machen die Herrschenden gern Verursacher im Ausland aus. Bundeskanzlerin Merkel richtet den Finger vorzugsweise auf den Finanzsektor der USA: »Die Bürger haben die Reformen meiner Regierungszeit nie geliebt, aber sie haben gesehen, daß die Arbeitslosigkeit … zurückgegangen ist. Jetzt haben viele Menschen die Sorge, ob diese ganze Anstrengung umsonst sein soll, wenn ein Ereignis von außen, wie die Lehman-Pleite und der Kollaps der Finanzmärkte, das alles zu zerstören droht«, wie sie voriges Jahr im Spiegel erklärte. Inzwischen wurde sie darauf hingewiesen, daß zusätzliche Sündenböcke in der EU zu finden sind, weil sie sich zu viele Schulden über die Maastrichtkriterien hinaus geleistet haben. Ins Visier der deutschen Aufklärer gerieten die sog. »Pi(i)gs« (Schweine): Portugal, Italien, (Irland), Griechenland und Spanien. Diesen vorwiegend südlichen Ländern wird angelastet, sie könnten allesamt keine Haushaltsdisziplin einhalten, hätten sich enorme Staatsausgaben auf Pump geleistet und bisher nur zögerlich die von der EU-Kommission angemahnten »Reformen« durchgesetzt. Irland dagegen erhält bessere Zensuren, weil es inzwischen zu einem erneuten Referendum über die EU-Verfassung erpreßt werden konnte und nunmehr auch die erforderliche neoliberale »Disziplin« versprochen hat …
Am schlimmsten aber soll es Griechenland getrieben haben: Schon die Aufnahme in den hehren Club der Euro-Länder habe es sich mit gefälschten Daten über sein wahres Bruttosozialprodukt und den Staatshaushalt erschlichen – angeblich mit Hilfe von US-Bankern und deren gewieften Finanzstrategien! Ähnliche Tricks wie zum Beispiel Cross-Border-Laesing oder Verrechnung von ständigen Verpflichtungen gegen in Aussicht genommene Privatisierungseinnahmen werden allerdings auch in den Zentralländern wie Deutschland oder Frankreich angewandt, aber was Jupiter darf, steht einem Ochsen noch lange nicht zu … »Die Griechen« werden mit schmähenden Kampagnen an den Pranger gestellt. Einen traurigen Höhepunkt leistete sich im März der Focus mit dem Titelbild einer berühmten Statue aus hellenischer Zeit, der Venus von Milo – mit einmontiertem Stinkefinger: »Betrüger in der Euro-Familie – Bringt uns Griechenland um unser Geld – und was ist mit Spanien, Portugal, Italien?« Im Text wurde die Beschimpfung munter weitergetrieben: »Das Schlaraffenleben der Griechen auf Pump droht die Währungsunion zu sprengen.«
»Wir müssen also bluten für die Griechen, die sich in den Euro geschummelt haben?« Da sei Bundesfinanzminister Schäuble vor. Der soll Hilfen an Griechenland strikt ablehnen – bisher jedenfalls noch.
Wegen derartiger Hetzkampagnen ist es nun schon zu diplomatischen Verwicklungen und antideutschen Aktionen gekommen. Der deutsche Botschafter in Athen wurde ins griechische Außenministerium einbestellt, der geplante Besuch des griechischen Präsidenten in Berlin war zwischenzeitlich in Frage gestellt worden. Griechische Medien verweisen darauf, daß Deutschland immer noch keine befriedigende Wiedergutmachungsleistungen für die Zerstörungen und die Massaker an der Zivilbevölkerung während des 2. Weltkrieges geleistet hat. Einige Organisationen in Griechenland haben zum Boykott deutscher Waren aufgerufen.
Damit käme man der wahren Ursache schon näher. Denn die Probleme mit der Zahlungsbilanz resultieren großenteils aus dem enormen Handelsungleichgewicht mit Deutschland. Jahr für Jahr konnte die BRD vier- bis fünfmal mehr Waren nach Griechenland exportieren als von dort hierher importiert wurden; 2008 strömten für 8,3 Milliarden Euro deutsche Waren in die Republik Griechenland, der Import aus Hellas dagegen summierte sich auf nur 1,9 Milliarden Euro. Vor der Euro-Einführung hätte Griechenland die Möglichkeit gehabt, seine Währung, die Drachme, abzuwerten, wodurch das Land seine Exporte billiger hätte anbieten können, und die Importe aus dem Ausland wären verteuert worden. Nicht zuletzt um dem Land diese Möglichkeit zu nehmen und die eigenen Handelschancen zu erhöhen, drangen die EU-Zentralländer 2001 auf einen schnellen Beitritt Griechenlands zur europäischen Währungsunion. Ähnlich verhält es sich mit den Zahlungsbilanzschwierigkeiten der anderen »Pigs«. Selbst der Focus muß zugeben, daß die Ungleichgewichte Berlin wohl doch dazu zwingen werden, Unterstützung zu gewähren: Deutschland könne »die schwachen Südstaaten nicht einfach abstürzen lassen: Mehr als 500 Milliarden Euro haben hiesige Geldinstitute in Staatsanleihen und Kredite dieser Länder gesteckt. Eine Pleitewelle würde eine zweite Bankenkrise auslösen.«
Da hat selbstverständlich »Deutschlands bester Ökonom« (Bild-Zeitung), Hans-Werner Sinn, gute Ratschläge parat, er plädiert für ein Eingreifen des Internationalen Währungsfonds: »Ich befürchte fast, die EU wird von Griechenland nicht die Disziplin einfordern, die nötig ist, um das Land auf Kurs zu bringen und andere Länder hinreichend abzuschrecken, es den Griechen gleichzutun.« Der Kurs, den Sinn alternativlos im Sinn hat und den Deutschland längst mit den Agenda- und Hartz-Gesetzen vorgegeben hatte, bedeutet: Absenkung der Renten- und Sozialleistungen, weitgehende Privatisierung des Sozialsystems, Stellenabbau im Öffentlichen Dienst, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Lohnsenkung. Der Teufel soll also durch Beelzebub ausgetrieben werden, der große Ökonom sieht nicht, daß Deutschland mit seiner neoliberalen Dumpingpolitik die anderen EU-Staaten in Währungsturbulenzen gebracht und nunmehr die schwächeren in die Pleite getrieben hat.
Die deutschen Gewerkschaften IG Metall und ver.di werden in den Medien gelobt, weil sie in den letzten Wochen »sehr moderate« und »vernünftige« Tarifvereinbarungen abgeschlossen hätten. Gemeint ist damit: Sie haben – mit weiterem Arbeitsplatzabbau erpreßt – Lohnzahlungen zugestimmt, die die Nettokaufkraft hierzulande weiter absenken, wenn die Zusatzbelastungen durch höhere Gebühren aller Art gegengerechnet werden. Und nun soll mit Hilfe des IWF, der sich auf kapitalistische Verarmungsstrategien versteht, das Lohn- und Sozialdumping fortgesetzt werden. Merken denn die verantwortlichen Gewerkschaftsspitzen nicht, daß ihr Standortkorporatismus und ihre Kungelei mit den Unternehmerverbänden das Unheil der Wirtschaftskrise mit verursacht hat und nunmehr dazu beiträgt, daß die europäischen Völker wieder in nationalistische Feindschaften getrieben werden? Solidaritätsaktionen vielfacher Art mit den Arbeitern, Angestellten und Studenten auf den Straßen Athens sind das Gebot der Stunde.