Nasen zu zählen, ist keine würdige Beschäftigung, erst recht nicht an einem der würdigsten Orte der Welt, dem Oberhaus des Kongresses im Nordflügel des Kapitols in Washington. Seit Barack Obama Präsident ist, sind im Senat sowohl Politiker wie Medienleute auf die Zauberzahl 60 fixiert – als hinge alles davon ab.
Aber ich sollte vielleicht erst einmal sagen, was es überhaupt mit dem Senat auf sich hat. Während im Repräsentantenhaus 435 Abgeordnete jeweils etwa gleich viele Wähler vertreten – bevölkerungsreiche Bundesstaaten entsenden mehr, andere weniger Repräsentanten –, hat jeder Bundesstaat, egal wie groß, im Senat zwei Vertreter. Seitdem 1959 Hawaii und Alaska hinzukamen, sind es insgesamt genau 100. Ursprünglich wurden die Senatoren nicht direkt, sondern von den Parlamenten der Bundesstaaten gewählt. Das änderte sich durch eine Verfassungsänderung im Jahre 1913. Seitdem werden auch die Senatoren direkt gewählt, aber nicht für zwei Jahre wie die Repräsentanten, sondern für sechs Jahre. Da alle zwei Jahre nur ein Drittel der Senatssitze neu besetzt wird, ändert sich die Zusammensetzung nur allmählich. Die kleinere Zahl der Senatoren und die Länge ihrer Mandatszeit – manche werden vier- oder fünfmal, manche bis ins Greisenalter immer wiedergewählt – machen die Senatoren zur Elite der Nation. Nach vielen Jahren im Amt sind sie bekannter als die meisten Kollegen im Unterhaus.
Das war von Anfang an die Absicht. Der Senat war und ist als konservatives Bollwerk von Aristokraten gegen allzu schnelle Änderungen in der öffentlichen Meinung gedacht. Daher übertrug die Verfassung nur dem Oberhaus das Recht, Verträge der Regierung mit anderen Ländern zu genehmigen und Entscheidungen des Präsidenten über die Ernennung von Ministern, Botschaftern oder Bundesrichtern zu billigen oder, was seltener vorkam, zu verhindern.
Es ist ungerecht: Der Bundesstaat Wyoming zum Beispiel hat viele Rinder und wilde Pferde, aber nur 530.000 Einwohner, Kalifornien dagegen fast 37 Millionen. Deshalb entsendet Wyoming nur einen Repräsentanten im Unterhaus, Kalifornien 53. Doch beide haben gleichermaßen zwei Senatorensitze, und Gesetze brauchen die Billigung beider Häuser, ehe der Präsident sie unterschreiben kann. Übrigens gehören Kaliforniens zwei Senatorinnen eher zum linken Flügel der Demokratischen Partei, während die beiden Herren aus Wyoming rechte Republikaner sind. Dünn bevölkerte ländliche Staaten sind also weitaus mächtiger als die anderen.
Im Senat wie im Repräsentantenhaus hat jetzt Obamas Partei die Mehrheit. Warum fällt es ihm dennoch so schwer, sein Programm, das so vielversprechend klang, durchzusetzen?
Das Schlüsselwort ist »filibuster«. Es kommt aus dem Holländischen und heißt ursprünglich Freibeuter oder Pirat. Senatoren können die Abstimmung über ein Gesetz verhindern, indem sie es gleichsam zu Tode reden. Das nennt man Filibuster. Meistens wurde dieser Trick angewandt, um alle Tätigkeiten des Senats so lange zu stoppen, bis die politische Gegenseite aufgab und den Gesetzentwurf fallen ließ. 1964 machte ein Senator das ganze Gremium 14 Stunden lang handlungsunfähig. 1958 redete der notorisch rassistische Senator Thurmond mehr als 24 Stunden, um ein Bürgerrechtsgesetz zu verhindern. Er hätte aus dem Telefonbuch vorlesen können, es hörte so wie so keiner zu. Er durfte das Wort sogar zeitweilig an einen Kollegen weitergeben, der den Filibuster fortsetzte. Ihn zu beenden, war nur möglich, wenn zwei Drittel des Senats für Schluß der Debatte stimmten, was in den meisten Fällen nicht gelang. 1975 kam man dann überein, die Zahl der erforderlichen Stimmen auf drei Fünftel zu reduzieren. So wurde die 60 zur magischen Zahl.
Bei der Wahl 2008 kamen die Demokraten auf 57 Sitze. Zwei Unabhängige schlossen sich ihnen an. In Minnesota fiel das Ergebnis äußerst knapp aus. Nach langem Streit sprachen die Gerichte dem fortschrittlichen Journalisten Al Franken den Sitz zu. So war endlich die 60 erreicht.
Entgegen den Washingtoner Gewohnheiten blieben die 40 Republikaner allesamt stur bei ihrem Nein zu allen Entwürfen der Demokraten. Einziger Zweck war und ist, Obama so schwach erscheinen zu lassen, daß die Republikaner im kommenden November viele Sitze zurückgewinnen können und 2012 einer der Ihren zum Präsidenten gewählt wird. Doch sie hatten nur 40 Stimmen, eine zu wenig. Eigentlich hätte also der Weg zur Billigung der allgemeinen Krankenversicherung, Obamas Hauptversprechen, frei sein müssen. Viele Millionen Unversicherte oder Unterversicherte warteten darauf, endlich vor finanziellen Krankheitsrisiken geschützt zu werden.
Aber nun stellte sich heraus, daß auf die Zauberzahl 60 doch nicht unbedingt Verlaß ist. Die Republikaner blieben stur, bei den Demokraten zeigten sich Schwachstellen. Als wackeligster erwies sich Joseph Lieberman, der 2008 Kandidat der Demokraten für das Amt des Vizepräsidenten gewesen war. Weil er aber den Irak-Krieg begeistert unterstützte, lehnten ihn die Demokraten in seinem Staat Connecticut als Senatskandidaten ab. Daraufhin kandidierte er als Unabhängiger und siegte. Obwohl er gegen Obama und für McCain, den republikanischen Kandidaten, agierte, beließen ihn die Demokraten in ihrer Fraktion. Sie hofften auf seine Unterstützung, aber bald stellte er sich als Gegner der Gesundheitsreform heraus. Man erfuhr, daß die mächtigen Versicherungen und die Pharmaindustrie ihm Hunderttausende Dollar Wahlkampfhilfe gezahlt hatten. Seine Frau arbeitet für Pfizer und andere Pharmafirmen und erhält Millionensummen. Kein Wunder, daß Lieberman wackelte. Und er war nicht der einzige. Die Pharma- und Gesundheitsindustrie zahlte 2009 fast 267 Millionen Dollar für Lobbying, die höchste Summe, die jemals von einer Branche aufgewendet worden ist, um ein Gesetz zu verhindern. Am freigebigsten spendete sie für Repräsentanten und Senatoren, die zu diesem Thema am meisten zu sagen haben, und so wackelten gern noch einige mehr. Sie selber brauchen sich kaum Sorgen zu machen, Arztrechnungen nicht begleichen zu können. Zwei Drittel der Senatoren und mehr als die Hälfte der Repräsentanten sind Millionäre. Sieben von ihnen verfügen jeder über mehr als hundert Millionen Dollar. Ohnehin sind alle Kongreßleute versichert – zu günstigen Bedingungen, versteht sich.
Aber: Die meisten wollen wiedergewählt werden. Dafür brauchen sie Geld, viel Geld. Doch manchmal reicht noch so viel Geld nicht aus, um die Wähler zu überzeugen. Der Präsident, wenn auch zur Zeit unter fast beängstigendem Beschuß der meisten Medien, hat immer noch eine starke Stimme, und US-Präsidenten verfügen über allerlei Methoden, um Druck auf Wackelpolitiker auszuüben. Wo also blieben Obama und seine Mehrheit von 60 Stimmen?
Wenig Aufmerksamkeit fand in den Medien, daß sich auch Obama mit Versicherungsvertretern an einen Tisch gesetzt hatte und offensichtlich Kompromisse machte. Das Gesetz, das er nun forderte, kennt keine staatliche Versicherung, welche die Privaten zwingen könnte, ihre Preise zu deckeln, nicht aber ihre Leistungen einzuschränken. Der geänderte Gesetzentwurf hätte immerhin noch zur Folge, daß künftig 30 Millionen mehr Menschen als bisher versichert wären, doch die Hauptgewinner wären die Privaten. Fortschrittliche Organisationen reagierten wütend, aber es schien unvermeidlich, ihre Wünsche zurückzuschrauben, damit nicht die ganze Reform verloren ginge und damit auch Obamas Chancen zur Verbesserung des Umweltschutzes, zur Stärkung der Gewerkschaftsrechte, zum Schutz vor den schlimmsten Gaunereien der Banken und so weiter abstürzten. Manche meinten einfach, ein halbes Brot sei besser als keins.
Am 18. Januar geschah es. Durch den Tod von Edward Kennedy, Senator von Massachusetts, wurde sein Sitz frei; die Nachwahl schien sicher, denn Massachusetts hatte seit vierzig Jahren immer nur Demokraten in den Senat geschickt. Doch deren sorglos ausgesuchte Kandidatin versagte; sie kämpfte kaum und gab manche fatale Äußerung von sich (zum Beispiel schrieb sie den beliebtesten Baseballspieler des Staates einem gegnerischen Team zu). Der wenig bekannte Republikaner fuhr mit einem einfachen Lieferwagen durch den Staat, nutzte geschickt die Wut der Bevölkerung über die pflegliche Behandlung der Banker aus, schob der Regierung die Schuld an der katastrophalen Arbeitslosigkeit zu und eroberte den Senatsitz – ein Schock für die Demokraten. »Ich bin der 41!« triumphierte der neue Senator Scott Brown.
Jetzt endlich, nachdem er auf höchstens 59 reduziert worden war, eröffnete Obama einen Kampf gegen die verlogenen, unterschwellig rassistischen Angriffe auf sein Programm. Die wichtige Frage der staatlichen Versicherung läßt er unerwähnt, aber andere setzen sich doch wieder dafür ein. Und Parlamentsexperten entdeckten Tricks, mit denen man die Filibuster-Blockade überwinden und mit der Mehrheit von 51 von 100 Stimmen durchkommen könnte, so daß die magische Zahl 60 ihren Schrecken verlöre. Statt Nasen zu zählen, muß man mit viel Energie Politik machen, nicht allein im Senat, sondern auch an der Basis, damit wackligen Senatoren klar wird, daß sie trotz Millionengeschenken der Pharmafirmen und Versicherungsriesen Wahlen verlieren können.