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Wider die Geschichtsbildmaler  (Kurt Pätzold)

In Deutschland läßt sich zur verleumderischen Bekämpfung eines politischen Gegners kein größerer Knüppel finden als der mit der Aufschrift »Antisemit«. Der wird seit nun nahezu zwanzig Jahren gegen den Staat DDR geschwungen. Nichts scheint besser geeignet, ihm enge geistige und praktisch-politische Verwandtschaft mit der faschistischen Diktatur anzudichten, zumal der Antisemitismus zum Kern der Nazi-Ideologie und mörderische Judenfeindschaft zur Drehachse der Politik des Nazi-Reiches erklärt worden ist. Wer glaubte, auf diesem Felde sei schon eingesetzt, was sich irgend denken ließe, hatte sich zu korrigieren, als 2001 die Kunde verbreitet wurde, der DDR-Staat habe sich an dem Zahngold bereichert, das sich in Knochenresten in einem Massengrab fand, in dem ermordete Juden verscharrt worden waren. Wer ein wenig von der Verwertung der jüdischen Leichname in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern wußte und von der Herkunft der Goldsendungen, die die SS an die Reichsbank schickte, dem mußte nicht erklärt werden, daß damit der Schlußstein für eine Konstruktion geliefert wurde, die nun nicht mehr nur eine Verwandtschaft der beiden Regime behauptete, sondern deren Identität bis hin zur abscheulichsten Form der Bereicherung glaubhaft machen wollte.

Das Geschilderte sagt, womit sich ein Autor auch und unvermeidlich zu befassen hat, der 2010 ein Buch über »Die DDR und die Juden« publiziert. Wohl kaum ein Verlag wäre wohl bereit, für die Arbeit, derlei Geschichtsbildmalern zu entgegnen, eine angemessene Erschwerniszulage zu gewähren. Der Anspruch darauf ist verdient, nicht jedoch durch den zu bewältigenden Schwierigkeitsgrad der Aufgabe, sondern durch deren Unappetitlichkeit; zudem muß der Autor gegen die Langeweile ankämpfen, erzeugt durch die Beschäftigung mit hartnäckig wiederholten Behauptungen, für die allenfalls Scheinbeweise angeboten werden. Was die Geschichte von der auf jüdisches Zahngold erpichten Staatssicherheit der DDR angeht, so stünde diese Zulage Hans Canjé zu, der ihre Hohl- und Gemeinheit in einem Artikel in der Zeitung Junge Welt nachgewiesen hat. Es war ein guter Einfalle von Detlef Joseph, diesen Text ungekürzt an das Ende seines Buches zu setzen und ihn so weiter bekannt zu machen.

Der Untertitel »Eine kritische Untersuchung« bezieht sich nicht nur darauf, daß hier unter die Lupe genommen wird, was über das Verhältnis des ostdeutschen Staates zu den Juden zusammengelogen worden ist, sondern nicht minder auf dieses Verhältnis selbst. Da wird nichts tabuisiert. Nicht die antijüdische, mit abstrusen und grotesken Begründungen gerechtfertigte Kampagne der frühen 1950er Jahre, die Juden und Nichtjuden einer sozialismusfeindlichen Verschwörung und des Agententums bezichtigte, Fluchten aus der DDR zur Folge hatte und in haltlosen, rechtsverletzenden Gerichtsurteilen gipfelte. Benannt werden in späteren Jahren: Fehler und Geistlosigkeit im Umgang mit Stätten, an denen Juden ein Gedenken zu bewahren war, Friedhofsschändungen, grobe, antijüdische Stimmungen begünstigende Mißgriffe bei der Kritik an der Politik Israels in Wort und Karikatur und anderes. Daraus aber einen »strukturellen« (das suggeriert so etwas wie einen angeborenen, unverlierbaren) Antisemitismus der DDR zusammenzurühren, das weist Joseph als übelwollende Legendenbildung zurück.

So viel Gewicht der Band in die Polemik legt, seine gedankliche Achse sind die Beziehungen zwischen den staatlichen Organen der DDR und den jüdischen Gemeinden und ihren führenden Personen. Sie werden in ihrer Kooperation ebenso dargestellt wie mit ihren unvermeidlichen Konflikten. Das ergibt keine Geschichte der Juden, die steht aus. Sie müßte vom Leben der Mitglieder der Gemeinde erzählen, ihrer Rückkehr aus den Lagern oder ihrem Hervortreten aus Ausgrenzung und Todesbedrohtheit, ihren Wohnverhältnissen im Nachkrieg, ihrer beruflichen und ehrenamtlichen Arbeit, kurzum von ihrem Alltag, den sie mit den Nichtjuden, der übergroßen Mehrheit, teilten, von ihrem religiösen Leben samt dessen Festen, den Bildungswegen der Kinder. Auf dieses Feld wird sich die vom Interesse der antisemitischen Bezichtigung geleitete Publizistik und Geschichtsschreibung nicht oder nur begeben, wenn sie aus der Hochbauschung und Verallgemeinerung von Konflikten glaubt, Kapital schlagen zu können. Schade, daß dem Buch ein Lektor gefehlt hat, dem vor allem die Tilgung der vielen Wiederholungen zugefallen wäre.

Teil II des Bandes bietet die Bibliografie »Jüdisches in Publikationen aus DDR-Verlagen 1945–1990«, die Renate Kirchner hergestellt hat. Wer wußte, womit sich die vieljährige Leiterin der Bibliothek der Jüdischen Gemeinde in Berlin/DDR befaßte, hoffte, bald das Resultat einer Kärrnerarbeit in die Hand zu bekommen. Das liegt jetzt vor. Der Anstoß, der zu dem Unternehmen führte, wäre unschwer zu erraten. Doch die Verfasserin bekennt ihn selbst: Absichtsvolle oder aus Unkenntnis geborene Ignoranz gegenüber dem, was auf dem ostdeutschen Buchmarkt zum Thema Juden, Judenverfolgungen, »Holocaust« und über Religion, Geschichte, Riten der Juden angeboten, gekauft und also gelesen werden konnte, hat der Bibliothekarin, die mit diesen Erzeugnissen täglich umging, als Herausforderung gegolten. Diese Nichtachtung hat selbst wieder eine Geschichte. 1992 ließ sich in der Zeit, mit polemischem Unterton gegen vereinfachende Bilder, noch lesen: »Vielleicht leistete die SED-Doktrin des Antifaschismus in dieser Hinsicht (wider den Antisemitismus; K.P.) mehr Aufklärung, als wir wahrhaben möchten.« Das war deutlich: Sie, die sich »Wir« nannten, mochten schon vor 18 Jahren nicht und mögen nun erst recht nicht, da sich das DDR-Bild, das sie verbreitet sehen wollen, nicht in erwünschtem Grade hat unter die Leute bringen lassen.

Nun legt Kirchners Bibliografie, die 1086 Titel nennt, die Namen der Autoren und der in Titeln und Überschriften vorkommenden Personen in einem Register erfaßt und dazu eine Chronologie enthält, die erschließt, welche Bücher in welchem Jahr erschienen sind, noch einen anderen Gedanken nahe. »Vielleicht« könnte es nicht eine Doktrin gewesen sein, die dem Kampf gegen den Antisemitismus und – das gewiß weniger – dem Verständnis von Juden und Judentum aufgeholfen hat, sondern schlicht eine staatliche Kulturpolitik, die in einem nicht eben reichen Lande die Buchproduktion vom Manuskript bis zum lesbaren Erzeugnis erheblich gefördert und subventioniert hat. Nicht nur die eigene, wie die Übersetzungen beweisen. Kirchners Bibliografie zählt solche aus den folgenden Sprachen auf: russisch, englisch/amerikanisch, jiddisch, hebräisch, serbisch, slowakisch, tschechisch, bulgarisch, jugoslawisch, ungarisch, litauisch, französisch, holländisch, spanisch.

Wer sich in der DDR über Jüdisches – die Autorin erläutert einleitend, wofür sie diesen Begriff benutzt und wie sie ihn und ihre Auswahl eingrenzt – lesend informieren wollte, der konnte (so auch die Gliederung der Bibliographie) auf die folgenden Gegenstände und Themen zugreifen: Nationalsozialismus und Judenverfolgung, Antisemitismus – Rassismus, Religion – Philosophie – Kultus – Brauchtum, Geschichte, Welt der Ostjuden, Palästina – Israel – Naher Osten, Jüdisches Leben in anderen Ländern, Lebens- und Werkbetrachtungen berühmter oder bekannter Juden. Das ist meine Bibliografie, schreibt Kirchner und begegnet damit dem Einwand, dieses oder jenes vergessen oder vernachlässigt zu haben. Denen, die der DDR den Antisemitismus andichten, wird diese Titelliste ohnehin reichen. Sie werden sich ihr gegenüber jedoch nicht anders verhalten als jene, die Galileo Galilei einlud, durch sein Fernglas zu sehen.

Veteranen der sozialistischen Bewegung in Ostdeutschland mögen diese oder jene Schrift vermissen, mit der ihr Aufbruch zu neuen geistigen Ufern begann. Leer gehen sie nicht aus. Georg Lukàcs’ Aufsatz gegen den Rassismus, publiziert 1945 im ersten Heft der Zeitschrift Neuer Weg, ist ebenso erfaßt wie die nur 19 Seiten umfassende Broschüre aufgeführt ist, die im gleichen Jahr vom Verlag der Sowjetischen Militäradministration veröffentlicht wurde. Sie enthielt den Aufsatz »Ich sah das Vernichtungslager« von Konstantin Simonow, der auf seinem Weg mit der Roten Armee nach Westen als Kriegskorrespondent das erste befreite Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek bei Lublin gesehen und darüber in der Armeezeitung geschrieben hatte. Und Detlef Joseph verweist in seinem Text auf eines der Sozialistischen Bildungshefte mit dem Titel Die Rassenlüge der Nazis, das 1947 der Schulung der SED-Mitglieder diente. In winters kalten Zimmern gelesen, in ebenso kalten Hinterzimmern von Gaststätten diskutiert, so begannen die Doktrinäre sich zunächst selbst zu doktrinieren. Was sich in wahres Deutsch so übersetzen läßt: Sie begannen zu lernen – vor und dann zunehmend mit den Anderen.

Detlef Joseph: »Die DDR und die Juden. Eine kritische Untersuchung« – mit einer Bibliographie von Renate Kirchner, Das Neue Berlin, Berlin 2010, 399 Seiten, 19.95 €