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Titel0510

Verpanzerte Jugend  (Anja Röhl)

Ich komme auf einem düsteren Bahnhof an. Im Bahnhofsgebäude bräunlich verblichene Gemälde. Das eine zeigt den Tierpark Senftenberg, das andere die Stadt mit Blick auf den See, der aus einer Kohlegrube entstanden ist. Über den jetzt toten Schaltern ist zu lesen, was hier früher angeboten wurde: Gepäckaufbewahrung, Internationale Fahrausweise, Reservierung von Schlafwagenkarten, Service-Büro, Mitropa, jetzt alles leer, die Schalter zugenagelt mit dunkelbraun bemalten Holzplatten. Ein Fahrkartenautomat steht einsam in einer Ecke. Draußen leere Straßen, verlassene und halbverlassene Häuser in grauem Putz, nirgends ein Lebenszeichen.

Doch: Auf einer Litfaßsäule prangt das Plakat des Theaters. »Schattenboxen« heißt das Stück, zu dessen deutschsprachiger Erstaufführung ich unterwegs bin. Der Autor Dennis Foon, in Detroit geboren und seit 1973 in Kanada ansässig, gründete 1974 ein Kindertheater und schrieb vielfach ausgezeichnete Drehbücher und Theaterstücke. »Schattenboxen« handelt von den Schwierigkeiten jugendlicher Beziehungsgestaltung in Zeiten zunehmender Kälte.
Das Theater der Stadt, 1946 gegründet, nennt sich seit 1990 Neue Bühne Senftenberg. Angeklebt an eine Schule steckt es mitten in einer Plattenbausiedlung. Was und wie hier gespielt wird, ist über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt geworden, 2005 wurde die Neue Bühne Senftenberg von der Zeitschrift Theater heute zusammen mit dem Deutschen Theater Berlin, den Münchner Kammerspielen und dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg zum Theater des Jahres gewählt.

Das Gebäude innen nimmt die Farbe des Bahnhofs wieder auf: riesige dunkelbraune Wände ohne jeden Schmuck. Die Bühne eine Betonmauernlandschaft, mit unverständlichen Sprüchen besprüht.

Der Hauptdarsteller tritt auf und zeigt über Minuten ein Gesicht eindrucksvoller Leere. Verpanzert. Selbsthaß und Selbstabwertung bestimmen den ersten Teil, und das Thema aus »Heimweh«, dem vorher hier inszenierten Stück, in dem ein Jugendlicher beschließt, sich selbst zu töten, wird wieder aufgenommen. Die Geschichte entfaltet sich zwischen vier Jugendlichen, deren Gewalttätigkeit zunimmt, je schwerer sie unter den Verwundungen durch ihre Eltern leiden. Die jungen Schauspieler agieren glaubwürdig und überzeugend, Sprache und Gestik der Jugendlichen sind gut getroffen.

Höchst wirkungsvoll ist der Kunstgriff, daß die Eltern als weiße Schatten im Hintergrund auftauchen, sobald sich Krisen hochschaukeln, und dort pantomimisch die Erinnerungsflashbacks der Jugendlichen zeigen, die mit Drohungen, Krachs, Streit, Verzweiflung aus dem wohl gehüteten Inneren des Privatlebens den Protagonisten in deren Dialoge hineinfunken. Dadurch wird sichtbar, wie schwer junge Menschen den Mustern der Erwachsenen entrinnen können und wie sehr wir von diesen Mustern bestimmt werden. Auch zeigt sich, als öffne sich ein Fenster, das ganze Ausmaß der in den Abgrund gestürzten Schichten der DDR-Bevölkerung zwischen Hartz IV und Alkohol, Brutalität und Verlassenheit.

Sara schafft es, sich von ihrem Macho zu trennen, es gibt glücklicherweise kein Happy End für Bob, die Welt ist in einem kleinen Ausschnitt gut abgebildet worden, zurück bleibt Leere. Und die Frage: Was tun?

Auf dem Rückweg ist hell erleuchtet ein REWE noch geöffnet. Vor dem Laden eine Clique Jugendlicher mit Bierflaschen, grölend. An der Kasse stehen drei von ihnen vor mir, sie lachen, kloppen Sprüche, sind wie leibhaftig dem Theater entsprungen. Eine Frau sagt zur Kassiererin: »Und das soll unsere Jugend sein? Unsere Zukunft?« Die junge Kassiererin: »Ich war nie so, es sind nicht alle so.« Sie lacht.

Dennis Foon über Jugendliche: »Sie versuchen, in ihren Möglichkeiten, Menschen zu sein, da aber keiner von ihnen wirklich eine Ahnung hat, was das bedeutet, oder wie Du es tun sollst, vermasseln sie es. Sie sind von sich selbst getrennt, von allem, was sie umgibt, weil sie gelehrt wurden, als Teil des »Mann-Seins« aggressiv zu sein und unverwundbar. Teil dieser Unverbundenheit ist ihre reduzierte Sprache, mit der sie andere herabzusetzen und Kontrolle über sich und andere zu gewinnen versuchen. Sie sprechen also im Slang, den sie als Waffe benutzen.«