Er hatte lange genug gelebt. Als er 1998, fast 103 Jahre alt, gestorben war, wurde er umgehend mit einer Sonderbriefmarke geehrt. Rechtzeitig vor seinem Tode, in seinem 99. Lebensjahr, hatte er veranlaßt, daß fast sein gesamter Nachlaß in das Deutsche Literaturarchiv (DLA) in Marbach am Neckar eingelagert wurde, ein »Papierlager von riesenhaftem Ausmaß«, wie die Archivverwaltung mitteilte. Jetzt ist hier erstmals eine Ausstellung mit Schriftstücken und unzähligen anderen Reliquien aus dem Papierlager des Verstorbenen aufgebaut worden, den Kulturstaatsminister Bernd Neumann bei der feierlichen Ausstellungseröffnung als »Jahrhundertautor« pries – Ernst Jünger. Ausgerechnet dieser »Wegbereiter und eiskalter Genüßling des (NS-)Barbarismus« (Thomas Mann 1945). Jetzt ein Wiedergänger auch für das 21. Jahrhundert?
Schulklassen, die laut Tagesspiegel »das Stammpublikum in Marbach bilden«, werden gleich zu Beginn der Führung von einem eigens angestrahlten Stahlhelm angezogen, der zwei Durchschüsse aufweist und wohl als Zeugnis eines geglückten Überlebenskampfes gedeutet werden soll. Die Besucher erfahren dazu aus dem Tagebucheintrag des Trägers aus dem Jahre 1915 dieses: »Mitten in diesem (Schlachten)taumel wurde ich durch einen furchtbaren Schlag auf den Rücken geworfen. Ich nahm den Stahlhelm ab und erblickte zu meinem Schrecken zwei ziemliche Löcher darin. Ich faßte an den Kopf, ob das Gehirn noch intakt war. Zum Glück nur Blut.«
In einer Vitrine gibt es dann noch einen weiteren Stahlhelm, der ebenfalls Durchschüsse aufweist. Im Tagebucheintrag vom 14. Juni 1917 heißt es dazu: »Der Offizier hatte einen Schuß ins Auge bekommen, der an der anderen Schläfe wieder herausgekommen war. Sein Stahlhelm war durchschossen.« Der Offizier, ein Brite, war nicht so gut davongekommen wie sein deutsches Gegenüber; seinen Helm brauchte er nicht mehr, und so hatte unser Kriegsjünger ihn samt einer metallenen Trinkflasche für die Nachwelt eingesammelt wie die 30.000 Käfer, von denen einige in einer Nachbarvitrine ausgestellt sind. Ernst Jünger, Sammler von Stahlhelmen und Käfern – das könnte den Schülern in Erinnerung bleiben. Ob sie auch etwas von der unheilvollen Wirkung erfahren, die von seinen Texten ausgingen, muß offen bleiben. Eine Auseinandersetzung damit läßt diese Ausstellung jedenfalls nicht zu.
Als Herold des Krieges ist Ernst Jünger den Älteren noch in Erinnerung. Aus seinen 15 Kriegstagebüchern gewann er das Material, nach 1918 in mehreren Büchern seine Kriegserlebnisse zu beschreiben und den Krieg positiv zu deuten. Sein Erstlingswerk »In Stahlgewittern. Tagebuch eines Stoßtruppführers« (1920) gab den Freikorps und der rechten Presse Zuversicht, daß es sich lohnt, für die Zukunft zur Beseitigung der »Schmach von Versailles« wiederum auf Krieg zu setzen. Die Begründung dafür finden wir am deutlichsten ausgesprochen in seinen Essays »Der Kampf als inneres Erlebnis« (1922) und »Die totale Mobilmachung« in dem Sammelband »Krieg und Krieger« (1930), in dem sich auch ein Aufsatz des späteren Nazi-Verbrechers Werner Best (seines geschätzten Briefpartners nach 1945) mit dem Titel »Der Krieg und das Recht« befindet.
In seinem Kampf als innerem Erlebnis beschwört Jünger gleich zu Beginn die altgriechische Weisheit des Heraklit: »Der Krieg, aller Dinge Vater, ist auch der unsere ... Indes: Nicht nur unser Vater ist der Krieg, auch unser Sohn. Wir haben ihn gezeugt und er uns.« Etwas später heißt es: »Es ist der Krieg, der dem Elementaren zum Durchbruch verhilft ... Da schießt es hoch, verzehrende Flamme, ein unwiderstehlicher Taumel, der die Massen ergreift... Das wird bleiben, solange die Menschen Kriege führen ... Den Menschen treibt der Wille zu töten ... Das ist der Kampf ums Dasein in seiner nacktesten Form. In diesem Kampf muß der Schwächere am Boden bleiben, Während der Sieger, die Waffe fester in der Faust, über den Erschlagenen hinwegtritt ...«
Auch viel Freude für den Einzelnen hat der Krieg gebracht, so daß man sich noch Jahre später daran berauschen kann. Jünger: »... Kameraden, erzählt, daß ihr Kerle gewesen seid, da und dort, wo immer wir uns getroffen haben, und daß ihr es jetzt wieder sein wollt ... Erzählt von Langemarck, von Ypern, von Verdun, ... das macht das Blut warm ... Und laßt das Bild der großen Schlacht aus dem Rausch aufschießen wie eine blutrote Orchidee ... Das ist ein Kunstwerk, wie es Männern Freude macht.« Meyers Lexikon von 1939 hat den Wesenskern der Schriften Jüngers richtig beschrieben: »Der hervorstechende geistige Zug all dieser Werke ist die unbedingte Bejahung des Krieges als einer obersten, sinnbestimmenden Macht des völkischen Lebens. Krieg gilt hier als wahres Symbol eines durchaus männlich aufgefaßten Daseins.« Ähnlich, nur, seiner Art entsprechend, etwas schlichter, äußerte sich 26 Jahre später, 1965, Bundespräsident Heinrich Lübke in einem Glückwunschtelegramm an Ernst Jünger zu dessen 70. Geburtstag (das in einer Briefsammlung der Ausstellung ebenso gezeigt wird wie ein Antwortschreiben des Privatsekretär Hitlers, Rudolf Heß, an Jünger (1926), in dem sich Hitler für einen Aufsatz Jüngers bedankt und den Wunsch ausspricht, ihn einmal persönlich sprechen zu können, »bei einer Durchfahrt durch Leipzig«. Lübke also stellte fest: »Ihre Erlebnisse als tapferer Offizier und erfolgreicher Stoßtruppführer ... haben Ihr Gesamtwerk nachhaltig beeinflußt«. Und er schließt mit dem Hinweis, daß er hohe Achtung vor ihm und seinem Schaffen empfinde, ebenso wie später, 1993, Kanzler Kohl und viele, viele andere ...
Heute werden bekanntlich in deutschem Namen wieder Kriege geführt, die aber von 70 Prozent der Bevölkerung abgelehnt werden. Begründungen für diese Kriege gibt es nicht, nicht einmal den Schein einer Begründung. Vielleicht soll deshalb der Kriegsgeist Jüngers, des »Jahrhundertautors«, noch einmal den Kriegführenden helfen.