Um die russische Umwelt braucht man sich keine Sorge zu machen. Sie ist per Gesetz (fast) vollständig geschützt. Und die beiden Präsidenten – Wladimir Putin und sein Nachfolger Dmitrij Medwedew – setzen sich strikt für ihre Bewahrung ein. Jedenfalls bei ihren öffentlichen Auftritten. Die alltägliche Praxis freilich weicht nicht selten davon ab. So zum Beispiel jüngst im Fall der Bürgerinitiative gegen die Vernichtung des einmaligen Waldbestandes in der Nähe des Moskauer Vororts Chimki, wo eine Autobahn gebaut werden soll.
Der Kampf begann vor einem Jahr. Der Chefredakteur der Lokalzeitung wurde wegen seines Engagements inzwischen »von Unbekannten« zum Krüppel geschlagen. Eine andere Frau aus der Initiative bekam vor ein paar Tagen einen seltsamen Besuch vom Vormundschaftsamt. Ihr wurde vorgeworfen, sie verpflege ihre Kinder schlecht und mißhandele sie. Zum Beweis wurden schriftliche Zeugenausagen der Nachbarn angeführt. Alles gefälscht – einschließlich der Namen der Nachbarn. Die echten Mitbewohner wußten von nichts. Außerdem wurde die Frau beschuldigt, bei einer Kundgebung eine Bombenattrappe installiert zu haben. Die Beamten drohten ihr an, die beiden Kinder ins Waisenheim einzuliefern. Psychoterror.
Ansonsten aber geht es dem Umweltschutz offiziellen Angaben zufolge nicht so ganz schlecht. Wirklich: Nicht jeder Ökologe wird zum Opfer solcher Willkür. Selbstlose Freiwillige dürfen sogar Probleme vortragen. Wo? Am besten in ihren Clubs. Auch in ihren auflageschwachen Flugblättern. Im Hörfunk und Fernsehen dagegen sind sie so seltene Gäste wie die Außerirdischen. An ihrer Stelle spricht die Obrigkeit.
Um die Unzulänglichkeiten zu beseitigen, brauche das Land »ein modernes, effizientes System der Umweltverwaltung«, sagte der Präsident im Dezember in seiner Jahresbotschaft. Die renommierte Umweltaktivistin Jelena Wassiljewa machte sich die Mühe, diesen Teil der Botschaft mit ihren Bemerkungen im Internet zu begleiten: Wissen Sie etwa nicht, Herr Präsident, daß es bei uns schon einmal ein solches System gab und daß es damals sogar funktionierte? Besorgte Spezialisten aus dem ganzen Land belieferten es mit ihren Empfehlungen und Informationen. Nach Putins Machtantritt wurde es abgeschafft. Vor allem der effiziente Waldbrandschutzdienst wurde aufgelöst – weil man sich an ihm nicht bereichern konnte. Viel profitabler für die Beamten ist ein reichlich finanziertes staatliches Programm zum Schutz des Waldes – von dem Geld können sie sich eine Menge in die Tasche stecken.
Nicht viel besser ist es um das Trinkwasser bestellt. Überall das gleiche Bild: verdreckte und verschmutzte Flüsse, Seen, Grundgewässer. schreibt Wassiljewa. In Medwedews Jahresbotschaft hieß es, man müsse das reale Ausmaß der verunreinigten Gebiete feststellen und als Ausgangspunkt für die Verringerung der Umweltschäden nehmen. Aber sofort stellten sich neue Fragen: Warum, Herr Präsident, stempelten Ihre Ämter die Umweltinformationen aus dem ganzen Land zum Staatsgeheimnis und versperrten der Öffentlichkeit den Zugang? Was gab es da zu verheimlichen? Und warum wurde das Institut der unabhängigen Sachverständigen geschlossen?
In seiner Botschaft regte Medwedew eine Amnestie für Umweltverschmutzer an. Voraussetzung sei, daß die Sünder »die harten Auflagen auf sich nehmen«, das Unheil zu beseitigen. Ihr bloßes Versprechen sollte ausreichen. Aber, Herr Präsident, wenn die Täter so pflichtbewußt wären, wer oder was hat sie denn vorher daran gehindert, die Umwelt zu schonen und die zu ihrem Schutz erforderlichen Mittel zu investieren? Das Staatsoberhaupt verlangte auch, endlich Qualitätsnormen für die Umwelt auszuarbeiten. Woraufhin Wassiljewa den Präsidenten fragte, ob ihm nicht bekannt sei, daß solche Normen seit langem gegolten haben – bis vor kurzem, als die Exekutive sie einfach abschaffte. Auch mit der Forderung nach Einführung des Fachs Ökologie in den Schulen blamierte sich der Präsident: Dieses Fach, 1996 eingeführt, wurde vier Jahre später aus dem Stundenplan gestrichen.
Genug der Auflistung. Recht hat Alexej Jablokow, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, ein langjähriger leidenschaftlicher Umweltschützer, den die Staatsmacht und Fernsehen beinahe so behandeln, als wäre er ein Staatsfeind: »Wenn die Luft nicht mehr fürs Atmen taugt, das Wasser nicht mehr fürs Trinken und die Nahrungsmittel nicht mehr eßbar sind, dann verlieren alle sozialen Fragen ihren Sinn.«