Auf seinen Reisen hat der Publizist Roger Willemsen »insulare« Kulturen mit parallelen Musikwelten wie die der Nomaden, der Klöster, der Bestattungszeremonien und der Feste entdeckt und die Erfahrung gemacht, daß im Vergleich zu Reise- und Expeditionsberichten von (aus europäischer Sicht) entlegenen Gegenden der Welt die Musik immer am schwerfälligsten reist. Um hier Botschaften, Wissen und Genuß zu vermitteln, nutzt Willemsen die Gelegenheit, die bewährte Reihe »Alla Turca« der Berliner Philharmoniker zur Konzertreihe »Unterwegs. Weltmusik mit Roger Willemsen« weiterzuentwickeln.
Präsentierte er im Dezember Musik der Nomaden, so brachte er im Februar Musik aus Klöstern in den Kammermusiksaal der Philharmonie. Die gebotenen Beispiele spannen einen weiten Bogen von Europa nach Asien.
Gesänge aus bulgarischen Klöstern boten das EVA-Quartett und das Vokalduo Dwuglas. Der Ursprung der Gesänge liegt 800 bis 1000 Jahre zurück; sie entstanden aus Meditationen von Eremiten, Gebeten der Mönche und aus liturgischen Zeremonien. Sie nahmen auch Elemente bulgarischer Volksmusik auf. Die menschliche Stimme war das allein tragende Organ, denn Instrumente galten zu jener Zeit als nicht gottesdienstfähig, erklärt Willemsen. Diese Musik war stark genug, um 500 Jahre osmanische Herrschaft über Bulgarien zu überleben, während dieser Zeit gepflegt in 237 Klöstern. Der getragene, oft monotone Gesang wird zuweilen abgewandelt in jiddisch klingende Lieder oder in das Rufen der Goralen. Die Innigkeit der Lieder steht im Kontrast zu den kraftvollen liturgischen Gesängen der orthodoxen Popen. Die thematische Begrenzung ließ dennoch Proben des Reichtums der bulgarischen Volksmusik vermissen. Trotz der Überlieferung der alten Vokalmusik durch die Klöster mußte vieles in der Türkenzeit Verschüttete rekonstruiert werden. Dem widmeten sich in den siebziger Jahren das Rundfunk-Frauenensemble »Le Mystére des Voix Bulgares«, heute das EVA-Quartett, und die Sänger und Forscher Milen Iwanow und Daniel Spassow – das Duo Dwuglas (übersetzt: zwei Stimmen oder Zwiegesang).
Völlig anderer Art ist der Vortrag der tibetischen Mönche des Klosters Tashi Lhunpo. Meditative Gesänge, dröhnende Klänge der großen Trompete Dung Chen, Klänge von Zimbeln, Glocken, Trommeln und Becken und martialische Tänze bieten etwas für Auge und Ohr. Der Schauspieler Christian Brückner liest aus Berichten von europäischen Reisenden über Klosterzeremonien, die die Vergeistigung und Weltabgeschiedenheit der Mönche betonen. Nichtsdestoweniger sind neben den bulgarischen Sängern auch die Mönche Profis, die ihre heiligen Riten einem internationalen Konzertpublikum in Europa vorführen. Ihr »Stand-ort« ist auch nicht mehr das Tashi-Lhunpo-Kloster in Tibet, sondern nach ihrer Flucht vor der chinesischen Kulturrevolution ein Nachbau bei Karnata in Südindien, wo auch der Dalai Lama seinen Exil-Amtssitz hat.
Roger Willemsen versteht es, in seinen begleitenden populärwissenschaftlichen Vorträgen – der Moderation – die Ursprünge dieser klösterlichen Musik, ihre Feinheiten und ihre religiöse Bedeutung zu erklären. Bei den bulgarischen Sängern ist klar, daß sie keine Klosterinsassen, sondern Künstler sind, die von ihrer Kunst leben. Unerwähnt bleibt: Wer ernährt diese tibetischen Mönche, die doch völlig ihrer Spiritualität leben und dem Glauben oft in tagelangen Zeremonien huldigen? Mir kommt Brecht in den Sinn: »Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein? Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?« Vor der Befreiung 1951 gab es in Tibet eine Million Leibeigene und Sklaven. Die Klöster, die 114.000 Mönche und Nonnen beherbergten, welche nicht arbeiteten, besaßen 36 Prozent des Ackerlands. Die leibeigenen Pächter mußten 70 Prozent des Ertrags an die Klöster abgeben und Fronarbeit leisten. Das Feudaleigentum wurde abgeschafft, und den Klöstern wurde Land zur Bearbeitung durch ihre Insassen zugewiesen. Da dies nicht genügt, erhalten die Klöster Subventionen. Im Autonomen Gebiet Tibet der Volksrepublik China leben heute 49.000 Mönche und Nonnen. Wie steht es bei den Mönchen außerhalb Chinas?
Damit sind wir bei »Seiner Heiligkeit«, dem von Willemsen verehrten Dalai Lama. In Willemsens Darstellung begegnet er uns als Aufklärer, Humanist und Moralist. Zudem als politisch Verfolgter, als Opfer der chinesischen Okkupation. Was aber wäre, wenn er zurückkehrte und gegen die Volksrepublik China das »Selbstbestimmungsrecht des tibetischen Volkes« durchsetzte? Wäre dann Schluß mit seiner Feudalherrschaft? Tibet als parlamentarische Demokratie? Der Dalai Lama im Wahlkampf um das Präsidentenamt? Wären dann die Tibeter und vor allem die Mönche nicht mehr Untertanen, sondern freie Bürger, die normalerweise ihr Brot mit eigener Arbeit verdienen? Spannende Fragen.
Bei der katholischen Kirche und beim Papsttum bestünden an ihrem reaktionären Charakter mit Zölibat, Verbot der Empfängnisverhütung und Feindschaft gegen Homosexuelle kaum Zweifel. Wie wäre der Dalai Lama zu klassifizieren? Wird ein feudaler Herrscher nach seiner Absetzung oder Emigration zum Märtyrer? »So viele Berichte. So viele Fragen.«