Mit »Weiskerns Nachlaß« schrieb Christoph Hein einen Gesellschaftsroman, so prall und köstlich, daß ich ihn einem Literaturkritiker ans Herz legte. Einem der drei, die mir weiterhin Unverzagtheit beim Blick auf die Wirklichkeit wünschten. Doch der Rezensent winkte ab: Sein Blatt stelle die Bücherseite ein! Auch hemme ihn selber das Grundgefühl, jene AutorInnen, die wie Wolf, Braun und Hein für die Qualität der DDR-Literatur gestanden hatten, hielten zur neuen Gesellschaft spürbar Abstand, was »ihren Texten jene faszinierende Substanz der beteiligten Subjektivität raubt, die mir früher so wichtig war und es noch heute ist«. Also springe ich hier für ihn ein. Denn auf Heins neues Buch trifft das durchaus nicht zu. Dessen Held Rüdiger Stolzenburg ist ein 59jähriger Germanist, geboren in Meiningen, mit zweifachem Karriereknick. Als die Eltern damals, nach dem Parteiausschluß des Vaters, in den Westen ausreisen durften, zerschlug sich Dr. Stolzenburgs Hoffnung auf ein Lehramt an der Humboldt-Universität. Er ging nach Leipzig, wo es für ihn, durch die Evaluierung (das typische Schrumpfen nach der Wende), bloß noch eine halbe Dozentenstelle gibt – ohne jede Aufstiegschance. Sein Spezialgebiet, das Wirken des Schauspielers und Mozart-Librettisten Weiskern im Wien des 18. Jahrhunderts, ist für das Institut eher Hobbyforschung; der Etat sieht dafür nichts vor.
Selber knapp bei Kasse und von einer närrisch hohen Nachforderung des Finanzamts geschockt, hilft ihm ein junger Studienabbrecher halbwegs aus der Klemme. Der macht sein Geld mit Finanzgeschäften und sagt über sich: »Immobilien, Wertpapiere, Fonds, Rohstoffe, die ganze Palette. Und da ist es hilfreich, das Steuersystem genauer zu kennen ... Man muß früh aufstehen. Der frühe Vogel fängt den Wurm.« Er nämlich springt jeden Morgen Punkt halb drei aus dem Bett, um zu sehen, wie die Börse in Tokio tickt. Für ihn ist Stolzenburg »so etwas wie ein Professor mit einem Gehalt, das kein Automechaniker akzeptieren würde« – also ein kauziger Typ aus dem akademischen Prekariat.
»Es macht mir Spaß«, hält Heins Held ihm entgegen, »gibt meinem Leben einen Sinn. Ich würde nie arbeiten, nur um Geld zu verdienen. Das wäre für mich schiere Vergeudung von Lebenszeit ... Auf Zahlen zu starren, mit Rohstoffen und fiktiven Werten zu spekulieren, das würde mich in die Depression stürzen ... Sie jonglieren mit Werten, von denen Sie nicht wissen, wie sie entstehen, wer sie festlegt und verändert oder manipuliert, was sie in der wirklichen Welt darstellen ... Ihr Leben ist eine einzige Kurvenfahrt, bestimmt vom täglichen Hoch und Runter der Notierungen.«
»Kleine Änderungen der Kurven bedeuten oft viel Geld.«
»Ja, Sie produzieren Geld, sonst nichts. Sie sind kein Dienstleister, kein Entdecker, kein Forscher, nichts Innovatives ist in Ihrer gesamten Existenz. Allerdings verantworten Sie ... durch Ihre Bedenkenlosigkeit bei den finanziellen Transaktionen womöglich den Tod vieler Menschen ... Und eben darum sind Sie für mich ein Rätsel und unbegreiflich.« Stolzenburg hält inne, ihm wird klar, seinen Helfer zu beschimpfen. Er entschuldigt sich bei dem, und der vergibt ihm souverän: »Sie sagen schließlich nur, was Sie denken. Vielleicht liegt hier die eigentliche Ursache Ihrer Finanznöte: immer sagen, was man denkt.«
Da trifft jeder Satz. Des Helden Skrupel, sein Scharfsinn und Rückgrat, die machen ihn zur Lichtgestalt im Strudel unserer Zeit. Und welche Schatten wirft die Figur erst im Privaten: Stolzenburg, seit zehn Jahren geschieden, und die Frauen – wie desaströs! Seine 30jährige Tochter hat unerfüllbare Geldwünsche; eine Mädchen-Gang spielt ihm zweimal übel mit. Bestechungsversuchen reizvoller Studentinnen widersteht er, anders als ein von ihm verachteter Kollege. Doch natürlich braucht er weibliche Nähe, ist mit einer frisch geschiedenen jungen Frau intim, die er dann für eine reife Partnerin aufgibt, ohne sie – die schon zwei Ehen hinter sich hat – vorerst für sich zu gewinnen.
Klug auch Gedanken zum Prozeß männlichen Alterns oder zu der Chance, ein Verhältnis schmerzarm zu beenden. Nach einer einzigen Nacht kann man sich freundlich verabschieden, selbst nach zwei Monaten mag das glücken, dann aber wird es schwierig und mit der Zeit fast unmöglich. »Es gibt offenbar ein Verfallsdatum für Trennungen«, merkt der Dozent. In solchen Passagen wirkt ein Lesesog auch über absatzlose Seiten hinweg, wie sonst vielleicht im Bann des magischen Realismus einer Isabel Allende; doch ohne deren manchmal störend mäandernden Erzählfluß. Der Autor bleibt stets beim Helden.
Und welche Gefahren lauern auf den! Man lese nur, wie er der Kriminalpolizei helfen muß, einen Betrüger zu stellen, der ihm Briefe aus Weiskerns Nachlaß anbietet. Oder dem mit unvergleichlicher Chuzpe vorgetragenen Wunsch eines reichen Studenten widerstehen will – 25.000 Euro für ein Diplom, das der aus rein privat-erbrechtlichen Gründen von Stolzenburg erschleichen will: Das würde nicht nur, wie plausibel dargelegt, den Familienbetrieb mit 350 Arbeitsplätzen retten, sondern ihm, dem Dozenten, auch Zugang verschaffen zu echten Schätzen, nämlich Weiskerns Manuskripten! Kann der Held auch dieser Versuchung trotzen?
Man erfährt es letztlich nicht. Kunstvoll schließt der Roman mit exakt jenem Alptraum im Flugzeug nach Basel, mit dem das Buch begonnen hat. Der Protagonist entschwebt, gequält von Beklemmungen. Zwar ist laut Friedrich Dürrenmatt »eine Geschichte erst dann zuende erzählt, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat«. Zugunsten präzis differenzierender Gestaltung in spannender Ambivalenz verstößt Hein, der ja auch Stücke schrieb, gegen dieses Diktum. Doch auch bei ihm steht, wie bei dem Schweizer Dramatiker, mitunter »die Welt als ein Ungeheuer da, als ein Rätsel an Unheil, das hingenommen werden muß, vor dem es jedoch kein Kapitulieren geben darf«.
Er setzt sich auch sonst über Regeln hinweg – zum Beispiel die, daß es unstatthaft sei, gut 300 Seiten lang im kurzatmigen Präsens zu erzählen, zumeist; nur Reflektionen gleiten ins Imperfekt. Das hat dem Buch so wenig geschadet wie das Fehlen jeglichen Lokalkolorits etwa von Leipzig, dem Hauptschauplatz, in Bild und Ton. Man vermißt es nicht, vielmehr hilft der Verzicht zur Konzentration auf das Wesentliche, den Mann im Halbschatten und sein Handeln.
Vor 30 Jahren las Hein an der Ostsee einmal aus seiner Novelle »Der fremde Freund«, und eine Dame im Publikum äußerte danach bewegt ihr Mitgefühl für die Heldin. Und anstatt sich an derlei Zuspruch zu wärmen, sagte der Autor streng: »Die muß Ihnen nicht leid tun, das ist eine Kunstfigur.«
Respekt, Respekt. Ich zog quasi den Hut vor diesem so ernsthaft-trockenen Mann. Schon damals ging es Christoph Hein, heute 67, um ein Höchstmaß an Genauigkeit. Das trug nun Früchte. Mit »Weiskerns Nachlaß« legt der Autor sein fraglos reifstes Werk vor. Und dabei glückt ihm, in Deutschland recht selten, der Spagat zwischen E und U, die Kombination von ernsthaft-anspruchsvoller und populär unterhaltender Literatur: ein ebenso lesbarer wie lesenswerter Roman.
Christoph Hein: »Weiskerns Nachlaß«, Suhrkamp Verlag, 318 Seiten, 24,90 €