Mit Erstaunen habe ich kürzlich festgestellt, daß ich zum »Pöbel der Vernünftler« gehöre, und nur deshalb, weil ich die Regierenden in unserem Land zuweilen tadele und mich mit den Ungereimtheiten und Widersprüchen in der bundesdeutschen Gesellschaft nicht abfinden kann. Immanuel Kant, in dessen grandiosem Werk »Kritik der reinen Vernunft« ich nach vielen Jahren wieder einmal blätterte, hat mir mit einem einzigen Satz die Augen geöffnet: »Der Pöbel der Vernünftler schreit aber, wie gewöhnlich, über Ungereimtheit und Widersprüche, und schmähet auf die Regierung, in deren innerste Pläne er nicht zu dringen vermag, deren wohltätigen Einflüssen er auch selbst seine Erhaltung und sogar die Kultur verdanken sollte, die ihn in den Stand setzt, sie zu tadeln und zu verurteilen.«
Kant in allen Ehren, aber einige Widersprüche in deutschen Landen konnte er nicht voraussehen, zum Beispiel diesen: Die Wirtschaftskraft der Bundesrepublik wächst und wächst. Von 1990 bis 2012 hat sich das Bruttoinlandsprodukt verdoppelt. Von 1.307 Milliarden Euro ist es auf 2.645 Milliarden Euro gestiegen. Im gleichen Zeitraum wuchs die Zahl der Armen, die man heutzutage beschönigend »Armutsgefährdete« nennt, auf fast 13 Millionen. Jeder sechste in Deutschland ist »armutsgefährdet«. Zehn Prozent der Deutschen verfügen über mehr als die Hälfte des Gesamtvermögens, für die Hälfte der Bevölkerung bleibt gerade einmal ein Prozent übrig.
Obwohl das Bruttoinlandsprodukt trotz aller zyklischen Schwankungen, Banken- und Eurokrise immer neue Höhen erklimmt, barmen die Finanzminister im Bund und in den Ländern, von den Kassenwarten in den Kommunen ganz zu schweigen, daß in den Geldsäckeln chronische Ebbe herrscht und sie gezwungen sind, vieles auf Pump zu finanzieren. Mittlerweile beträgt die Pro-Kopf-Verschuldung in der Bundesrepublik rund 25.000 Euro, und die gesamte Staatsverschuldung hat die Zwei-Billionen-Markierung längst überschritten. In jeder Sekunde wächst sie um 900 Euro. Die Gesamtverschuldung liegt bei über 80 Prozent des beständig wachsenden Bruttoinlandsproduktes. Deutschland wird immer reicher, aber das Gemeinwesen immer ärmer.
Doch dieser auf den ersten Blick recht widersprüchlichen Entwicklung soll nun Einhalt geboten, mit der Schuldenmacherei soll Schluß gemacht werden. Selbstredend nicht durch eine Umverteilung von oben nach unten, durch eine Vermögens- oder Reichen- oder gar eine neue Erbschaftssteuer. Nein, um Gottes willen, wo kämen wir denn hin, wenn wir den Reichen und Superreichen, den kapitalistischen Großunternehmern, den Managern, den Bankern und Spekulanten, verwehren würden, sich aus dem Kuchen des wachsenden Bruttoinlandsproduktes immer größere Stücke zu schneiden? Rigoroses Sparen ist angesagt. Der Bundesfinanzminister setzt die Daumenschrauben an. So richtig angezogen werden sollen sie verständlicherweise erst nach der Wahl am 22. September. Einen unsozialen Horrorkatalog, dessen Existenz er – wie könnte es anders sein – erst einmal dementieren ließ, hat Wolfgang Schäuble, umsichtig wie er ist, in seinem Ministerium bereits vorbereiten lassen.
Aber angesichts der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse soll mit dem Sparen bereits jetzt begonnen werden, und zwar so, daß es dem Wahlkampf der CDU/CSU einen kräftigen Rückenwind sichert. Ist es nicht allerlobenswert, wenn die jetzige Regierung für das Jahr 2014 einen Bundeshaushalt vorbereitet, der völlig ausgeglichen sein soll? Und wer sollte sich nicht darüber freuen, daß die für das Soziale zuständige Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) nur eine klitzekleine Einsparung hinnehmen, während Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) den größten Sparbeitrag leisten soll? Sozialer und friedliebender geht es einfach nicht!
Daß ausgerechnet unsere stolze, weltweit einsetzbare und mittlerweile mit zwar unterschiedlicher Stärke in Afghanistan, in Kosovo, im Mittelmeer vor der Küste Libanons, im Pazifik vor Somalia, in der Türkei, in Mali und in sechs weiteren Ländern für Frieden, Freiheit, Demokratie und Menschenrechte streitende Bundeswehr am meisten sparen soll, ist ein starkes Stück. Kein Wunder, daß de Maizière pausenlos darüber grübelt, wie er das schaffen soll. Aber weshalb eigentlich, liegt doch auch hier das Gute ach so nah. Es gibt in der Heimat Vorbilder, die zeigen, wie man mit Wenigem auskommt und prächtig sparen kann. Millionen »Hartz IV«-Empfänger machen es vor. Mit einem Eckregelsatz von monatlich 382 Euro kommen sie mit ein wenig Mühe recht gut über die Runden. Vor allem die, die Ratschläge zum Sparen beherzigen.
Unvergessen und aktuell wie damals sind die Pullover-Empfehlungen des damaligen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin (SPD) bei 15 oder 16 Grad Zimmertemperatur. Aber Sarrazin ist bei weitem nicht der einzige Helfer der Armen, an Sparberatern mangelt es nicht. Zu ihnen zählt zum Beispiel die Studiengemeinschaft Darmstadt, die meint, der »Hartz IV«-Bezug sei eine Abwärtsspirale. Sparen sei allein noch kein Ausweg, aber ohne zu sparen, schaffe man es nicht. Deshalb rät sie unter anderem, zum Wassersparen auf das Duschen am Morgen zu verzichten, Lebensmittel zu kaufen, bei denen das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist, die letzte Stunde am Samstag zum Einkauf zu nutzen, da dann die Preise für Obst und Gemüse stark reduziert seien, im Winter dicke Vorhänge vor den Fenstern und der Eingangstür anzubringen, um Heizkosten zu reduzieren.
Andere Ratgeber, so die Website Hartz4.net, haben weitere Spartips. Sie empfiehlt, kostenlose Werbeprospekte von Supermärkten nicht wegzuwerfen, sondern sie im Gegenteil genau zu studieren und sich zu merken, wo man welches Produkt zur Zeit am billigsten erhält, beim Kauf von Bekleidung Schlußverkäufe zu nutzen, Bekleidung oder Gebrauchsgegenstände auf dem Flohmarkt zu erwerben und so weiter und so fort. Mit solchen und anderen Spartips könnten Empfänger von »Hartz IV« nicht nur besser mit ihrem Geld wirtschaften, sie würden vielleicht sogar pro Monat einen kleinen Betrag auf die Seite legen können.
Einmal ganz abgesehen davon, daß schon Oscar Wilde meinte, den Armen Sparsamkeit zu empfehlen, sei so grotesk und beleidigend, als riete man einem Verhungernden, weniger zu essen, sind die Ratschläge nützlich und werden von nicht wenigen »Hartz IV«-lern beherzigt.
Angesichts der vorgesehenen Einsparungen könnten einige auch von der Bundeswehr befolgt werden, der Spareffekt wäre beträchtlich. Ein ebenfalls von der Studiengemeinschaft Darmstadt empfohlenes Sparinstrument ist die in früheren Zeiten von armen Familien genutzte sogenannte Kochkiste, eine nicht zu große, gut isolierte Holzkiste, in der Speisen zu Ende gegart, lange warm gehalten und so Heizmaterialien gespart werden konnten. Heutzutage hat sich die Kiste weiterentwickelt. Sie wird innen mit Aluminiumblech ausgeschlagen und mit einem Glasdeckel versehen. Wird sie dem Sonnenlicht ausgesetzt, dann kann sich der Innenraum selbst in unseren Breitengraden bis auf 170 Grad erhitzen. Von »Hartz IV«-Betroffenen wird sie nachgebaut und effektiv genutzt.
Da die Jungs der Bundeswehr meist in sonnenreichen südlichen Gefilden zum Einsatz kommen, könnten solche Kochkisten von erheblichem Nutzen sein und dazu beitragen, die anvisierten Einsparungen im Verteidigungsetat zu erzielen. Minister de Maizière sollte sich diese Chance nicht entgehen lassen. Im Osten hieß es ehedem: »Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen.« In Ost und West kann der Spruch bei ein wenig Mut zum Neuen abgewandelt werden: »Von »Hartz IV«-lern lernen, heißt sparen lernen.« »Hartz IV« konnte Immanuel Kant nicht kennen, ob er von der segensreichen Kochkiste wußte, ist nicht überliefert.