Um den Jahreswechsel herum gibt es immer einiges, was traditionell erledigt werden muß. Es muß ja alles seine Ordnung haben, die Selbstverwaltung auch. Dazu gehört bei mir das Einrichten des neuen Kalenders, das sich meistens bis Ende Januar hinzieht. Da sind Rufnummern, E-Mail-Adressen und Anschriften zu übertragen, langfristige Termine festzuzurren und Daten von Visitenkarten zu übernehmen, die man sich bei Begegnungen der letzten Monate irgendwo in die Taschen verschiedener Jackets gestopft hat. Es kommt also auch immer etwas Neues hinzu.
Und beim Einrichten des Jahrbuchs stößt man jährlich auf den unwiderruflichen Sachverhalt, daß sich wieder einiges geändert hat. Die Physiotherapeutin hat ihre Praxis aufgegeben, der Urologe im Ärztehaus ist sinnvollerweise weiter nach unten verzogen, der Versicherungsvertreter hat gewechselt, die Steuerberaterin hat ihr Büro aus Kostengründen in ihr Wohnhaus verlegt, und unser Sohn hat samt Familie wieder mal die Anschrift geändert, zum vierten Male, aber diesmal endgültig. Sagt er.
Bei der Durchsicht der Daten stößt man auch auf Angaben, die man nicht mehr übertragen muß, weil die Menschen, zu denen sie gehörten, ihre leibliche Existenz aufgegeben haben. Angehörige, Freunde, Kollegen – man sieht sie vor sich, hört ihre Stimmen, erinnert sich an ihre Gesten und manches gemeinsame Erlebnis. Gerade heute, am 21., hatte Dieter E. Geburtstag, der langjährige Vereinsvorsitzende vom TSC, ein guter Freund. An dieser und an anderer Stelle stockt dann die Feder, und man legt vor dem nächsten Eintrag eine kleine Besinnungspause ein.
Ach, und der Helmut! Immer so vital, und trotzdem von einem Tag zum anderen ratzfatz weg. Nach der Beerdigung vom Werner, dem ollen Meckerkopp, hatten wir beide noch ein paar Bierchen miteinander gezischt und uns versprochen, nicht erst bei einer Beisetzung wieder aufeinander zu treffen. Das hat der Werner nun nicht eingehalten, und ich mußte mir für die anschließende Spülung einen anderen Schluckpartner suchen.
Und dann trifft man auf die Daten sehr alter Freunde und Verwandte. Da möchte man sich manchmal gleich fragen, ob man ihre Anschlüsse besser mit dem Bleistift übertragen sollte.
Aber die Veränderungen betreffen einen ja selber auch. Zum Beispiel brauche ich jedes Jahr einen Kalender mit größeren Schrifttypen. Und ich werde jedes Jahr körperlich einen runden Zentimeter kleiner, obwohl ich schon von Anfang an nicht gerade mit Funkturmhöhe ausgestattet worden bin. Pro Jahr ein Zentimeter, das hat selbstverständlich auch Vorteile. Ich kann mir ausrechnen, wann ich weg bin, und mich langfristig darauf einstellen und die Angehörigen und die zuständigen Unternehmen auch.
Ja, und dann durchziehen die Daten ehemaliger Schüler den Kalender. Die saßen von 1957 bis 1961 vor mir in der Klasse, als ich das erste und letzte Mal in meinem Lehrerleben Klassenleiter war. Die letzten von ihnen werden in diesem Jahr 70, aber einige gibt’s schon seit Jahren nicht mehr. Zum Beispiel Joachim, ein Chirurg, der mir die linke Hand operiert hat, um der fortschreitenden Krümmung einiger Finger Einhalt zu gebieten. Nein, das ist nicht kriminell gemeint, nur anatomisch. Als ich Jahre später die rechte Hand in eine Eisentür hielt, die gerade zufiel, konnte ich auf einen anderen Chirurgen zurückgreifen, der auch mal mein Schüler war: Hannes. Ein guter Fachmann und ein origineller Mensch, und das blieb er bis zu seinem Tode. Bei meiner in den nächsten Wochen anstehenden wiederholten Hand-OP muß ich auf einen mir unbekannten Arzt zurückgreifen, einen Fremdkörper sozusagen. Hoffentlich übersteht er das gut. Die Ärzte kommen und gehen, die Narben bleiben bestehen.
2011 haben wir übrigens ein Klassentreffen zum »Goldenen Abitur« organisiert, in Wernigerode. Dorthin war ich mit meiner Klasse nach dem Abi 1961 gereist, kurz vor dem Berliner Mauerbau. Wegen der innerdeutschen Grenze fand die Bahnfahrt zum Brocken damals schon in Schierke ihr Ende. Den Rest der Strecke haben wir dann 50 Jahre später draufgesattelt, mit Lokomotivenpfiff und Schierker Feuerstein. Noch mal 50 Jahre können wir nicht warten, man weiß nicht, ob sich die Nostalgie-Bahn so lange hält. Und so viele Kalender werde ich wohl auch nicht mehr brauchen. Digital ist das sowieso sinnvoller.
Neulich bin ich in der Greifswalder Straße in Berlin an einem Gebäude vorbeigekommen, in dem in den 50er Jahren die Schliemann-Oberschule untergebracht war. Dort habe ich 1955, und zwar mit Spannung und Begeisterung, mein erstes Schulpraktikum absolviert. Einen Tag in der Woche Unterricht in zwei 11. Klassen und Hospitationen, das hat mir mehr Freude gemacht als triste Seminare über die Geschichte der Pädagogik. Ich bin mittwochs gern hingefahren und habe das graue Schulgebäude und seinen Durchgang zum Hof fast geliebt. Mein Mentor war ein Herr J., aber nicht bis zum Schluß, da war er schon nach dem Westen abgehauen. Sein Nachfolger hat sich auch nur sehr kurz in meinem Kalender gehalten.
Das Gebäude sieht von außen noch genauso aus wie damals. Der Kommilitone, der gleich mir in die Schliemann-Schule eingewiesen wurde, stand noch etliche Jahre in meinem Verzeichnis. Er war dann viele Jahre Lehrer in Eberswalde und lebte dort auch als Rentner. Gibt es ihn noch? Er hatte es schon zu Studentenzeiten mit der Leber. Gewohnt hat er übrigens zu Studienzeiten in der Boxhagener Straße 52, seine Vermieter hießen Kobs. Wenn ich dort vorbeikomme, gucke ich automatisch auf die Klingelschilder. So ein Blödsinn!
Zu anderen Studiengefährten habe ich keine Kontakte mehr – das letzte Mal traf ich mit einigen von ihnen zusammen, als wir meinen Freund Siegfried P. auf einem Dorffriedhof nördlich von Berlin für immer verabschiedet haben und ich die Trauerrede hielt. Die Sache hatte ihre besondere Tragik: Siegfrieds Frau Gitta, die mich noch um die Gedenkworte gebeten hatte, war kurz vor der Beisetzung an derselben Krankheit verstorben. Die Bauchspeicheldrüse. So wurde ein Familienbegräbnis daraus, was den Hinterbliebenen die Organisation erleichterte. Das Telefon in Erkner – dort hatten beide nach ihrem wendebedingten Rausschmiß aus der Akademie noch ein Haus gebaut – befindet sich schon seit Jahren nicht mehr in meinem Verzeichnis.
Wenn man alle Rufnummern zusammentragen würde, die sich inzwischen erledigt haben, käme ein eigenes Register zustande, eine Art »Memoarium«. Dazu gehörten dann auch Leute, mit denen man jahrelang auf der Bühne gestanden hat oder die mit dem Theaterbetrieb verbunden waren, so Theaterleiterin Inge Fischer, Regisseur Fritz Decho, Autor Gerhard Branstner, die Pianisten Erhard Franz und Werner Busch, der Darsteller Jürgen Sommerfeld, der Musiker Lothar Markowski und die Hannelore S., mit der ich einst das Tucholsky-Programm für Berliner Schulen entwickelt hatte. Für die Hannelore habe ich übrigens auch die Trauerrede gehalten, bei strahlendem Sonnenschein in Pankow.
Vielleicht sollte man wirklich so etwas anlegen und zu jeder Person etwas aufschreiben. Tragischen und heiteren Stoff dafür würde es genügend geben, selbst aus dem Todesfall.
Völlig überraschend, auch für seine Familie, vollzog sich beispielsweise das Ableben Gerhard Branstners. Kurz nach seinem 80. Geburtstag erwartete er in seiner Wohnung in der Friedrichstraße einen Journalisten. Da sich dessen Eintreffen aus irgendwelchen Gründen verzögerte, legte er sich für ein Viertelstündchen aufs Ohr und entschlief dabei für immer.
Dadurch weiß er heute noch nicht, daß der Termin mit der Presse nicht zustande gekommen ist.
Der Abschied von Jürgen S. verlief auf andere Weise ungewöhnlich. Einige seiner Kollegen vom Zimmertheater verfehlten den zuständigen Friedhof und wurden einer anderen, gerade begonnenen Trauerfeier zugeordnet. Der Irrtum klärte sich erst an der Urnenstelle auf, als ein Hinterbliebener die kondolierenden Mimen fragte, in welcher Beziehung sie eigentlich zu seiner verstorbenen Tante gestanden hätten. Jürgen hätte sich, so er das Geschehnis von oben oder unten beobachten konnte, köstlich darüber amüsiert.
Auf jeden Fall wäre ein »Memoarium« eine echte Aufgabe, und es wäre bestimmt viel Heiteres dabei. Zella-Mehlis, spricht da der Thüringer, so ist das Leben! Man sollte mal drüber nachdenken. Bevor es zu spät ist.