Die europäische Linke ist in der Defensive. Die Gründe dafür sind vielfältig. Da ist zum einen der Zusammenbruch des »real existierenden Sozialismus« 1989, der vor allem bei jenen eine Schockstarre ausgelöst hat, die jenseits der Blockgrenze ein linkes Gegenmodell sahen, zumindest aber ein kleineres Übel. Da ist die Sozialdemokratie, welche sich in der Folgezeit aller noch verbliebenen linken Programmatik entledigte, sich aber gleichzeitig als nun einzig mögliche Alternative anbot. Da sind schließlich die EU und die Globalisierung, die nicht als das erkannt wurden, was sie darstellen: einen massiven Angriff auf die klassische Klientel der Linken – die Lohnabhängigen.
Während sich in Deutschland die Diskussion über EU und Globalisierung im wesentlichen innerhalb der Partei Die Linke abspielt, geschieht dies in Frankreich auf mehreren Ebenen: Zum einen in den verschiedenen Parteien des linken Spektrums wie der Parti de Gauche (Linkspartei), der Parti communiste français (PCF) und der trotzkistischen Ligue communiste, aber auch im publizistischen und wissenschaftlichen Bereich. Im Gegensatz zu Deutschland, wo das rechtsnationale Lager vor allem von den bayrischen Christdemokraten und der AfD bedient wird, existiert in Frankreich mit dem Front National eine für die Linke weitaus ernstere Bedrohung. Mit Ausnahme der trotzkistischen Partei, die an ihrem traditionellen Internationalismus unbeirrt festhält, gibt es in den anderen Parteien starke Zweifel, ob in Zeiten eines aggressiven weltweiten Neoliberalismus die alten Parolen noch Sinn haben. Wenn zum Beispiel fast die gesamte europäische Textilindustrie in Länder ausgelagert wird, in denen der Monatslohn 70 bis 100 Euro beträgt, so nützt dies auch dem europäischen Arbeitslosen, der sich billig einkleiden kann. Wenn die europäischen Kernländer, allen voran Deutschland, massiv gut ausgebildete Süd- und Osteuropäer anwerben, dann werden nicht nur die Ausbildungskosten auf die ärmeren Staaten abgewälzt, es wird auch ein latenter Lohndruck auf die einheimischen Arbeitskräfte ausgeübt. Schließlich das gemeinsame Geld: Außer dem Vorteil, keine Wechselstube mehr aufsuchen zu müssen und Preise besser vergleichen zu können, hat die europäische Währung für große Teile der Bürger keinen Nutzen. Im Gegenteil: Sie nützt nur den wirtschaftlich stärksten Ländern, allen voran Deutschland.
Also den Euro abschaffen? Yves Dimicoli, Wirtschaftsexperte der PCF, hält den Ausstieg aus dem Euro für illusorisch, ja für demagogisch. Für ihn geht es eher darum, »eine neue Art Staatenbund für eine dezentralisierte, demokratische und soziale Kontrolle der Märkte, für eine gemeinsame Absicherung/Förderung der Beschäftigung, der Ausbildung und des öffentlichen Dienstes voranzubringen. Dieser Ansatz wendet sich auch gegen die unbedingte Erfordernis für Deutschland – oder genauer für seine Kapitalisten – den Rest des qualifizierten Europas für oder in Deutschland arbeiten zu lassen, eben auch um Lohnforderungen jenseits des Rheins einzudämmen.« Für Dimicoli besteht die einzige Chance in einem gemeinsamen europäischen Handeln durch das Zusammenwirken linker Bewegungen der einzelnen Länder, unterstützt durch Streiks und Demonstrationen. »Es geht im Gegenteil darum, sich – auch durch den Druck der Straße – auf Vorschläge zu einigen, den Gebrauch des Euros zu ändern. Und damit die Rolle, die Geldpolitik, die Aufgabenund die Kontrolle der Europäischen Zentralbank (EZB) zu ändern. Es geht darum, Vorschläge zu formulieren, die den Umgang mit Krediten und die Rolle der französischen Banken verändern. Und dabei auch Möglichkeiten zu schaffen, mit einer tiefgreifenden Reform des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank zugunsten einer echten Weltwährung als Alternative das Ende der Vorherrschaft des Dollars und der USA zu erzwingen.« Ob es allerdings gelingt, den in vielen Ländern diskreditierten Europagedanken mittels einer Massenbewegung wieder aufleben zu lassen, erscheint fraglich. Zu unterschiedlich sind die historischen Erfahrungen, zu verschieden die Mentalitäten.
Guillaume Etiévant, in der französischen Linkspartei zuständig für Wirtschaft und Arbeit, würde dagegen auch ein Frankreich ohne Euro befürworten, wenn die Umstände es nicht anders zulassen: »Unsere Strategie besteht in der Subversion innerhalb der europäischen Institutionen, auch was den Euro betrifft. Wir sind bereit, die französische Nationalbank zu übernehmen, um ihr zu erlauben, unsere öffentlichen Schulden zu finanzieren, wenn es sich als unmöglich herausstellt, den Status der EZB zu ändern. Diese Politik der Konfrontation innerhalb der EU kann zu einer politischen und diplomatischen Krise, ja sogar zu unserem Ausschluß aus der Eurozone führen, selbst wenn dies in den Verträgen nicht vorgesehen ist.« Es geht also um einen proeuropäischen Klassenkampf, der sich durch Mißachtung der europäischen Verträge manifestieren soll, um die Durchsetzung von Allgemeininteressen gegen Partikularinteressen der Wirtschaft und der Banken. Darin liegt für Etiévant der grundsätzliche Unterschied zur Europapolitik der Rechtsnationalen: Verteidigung der Souveränität des französischen Volkes, aber mit einer internationalistischen Perspektive.
Jacques Généreux, Professor für Politik und Wirtschaftsfachmann der Linkspartei, sieht ebenfalls keinen Ausweg aus der Misere ohne eine Änderung der EU-Verträge. Der Teufelskreis zwischen exzessiven Schulden und dem rigiden Sparprogramm kann für ihn nur durchbrochen werden, wenn man sich der Schulden entledigt, ohne die öffentlichen Ausgaben zu opfern: »Zunächst müssen die Ausgaben steigen, jedoch ohne die Schulden zu erhöhen. Wie? Indem man ungenutzte Ressourcen nutzt. Die gibt es: So könnte man auf gebunkertes Geld zurückgreifen, das in Vermögen und Luxusgütern steckt und aus Steuerschlupflöchern stammt. Nach Angaben der Steuerfahndung haben von 150 Milliarden Euro aus diesen Schlupflöchern 70 Milliarden keinen positiven Effekt auf die Wirtschaft ... Um diese zurückzuholen, reicht es, die Steuerrichtlinien wieder in Kraft zu setzen. (…) Schon wenn man schlicht die Höhe der Einkommenssteuer aus der Zeit Anfang der 90er Jahre anwenden würde, brächte das 17 Milliarden Euro ...«
Den Euro sieht auch Généreux nicht als heilige Kuh. Da diese monetäre Zwangsjacke den Mitgliedstaaten per Definition eine Abwertung untersagt, bietet sich als letzter Ausweg eine Rückkehr zur nationalen Währung an. Es wäre zudem eine Art Druckmittel gegen das Steuer- und Sozialdumping des europäischen Wirtschaftsliberalismus. »Die Einheitswährung darf nicht dazu dienen, eine aggressive Wirtschaftspolitik zu betreiben und sich gleichzeitig durch das Verbot der Abwertung der Währung der Nachbarn zu schützen, wie es Deutschland getan hat.« Was aber würde passieren, wenn die französische Regierung einen ›Eurofranc‹ einführt? Immer-
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Die Europa-Legende
Wann immer Linke Kritik an den Strukturen und an der Politik der Europäischen Union üben, bringen regierende oder »regierungsfähige« deutsche Politiker, von den Großkoalitionären bis zu den Grünen, ein scheinbar vernichtendes Gegenargument unters Publikum: »Linksnationalisten« träten da auf, die nichts gelernt hätten aus der Geschichte; in die Katastrophe sei Deutschland historisch doch geraten durch seine völkische Engstirnigkeit, in Zeiten Hitlers ins Extremistische gesteigert. Und erst nach 1945 habe deutsche Politik sich glücklicherweise dem »europäischen Gedanken« geöffnet.
Waren die Nazis »Europafeinde«? Mitnichten. Ab Beginn des Zweiten Weltkrieges traten hitlerdeutsche Außenpolitiker, Wissenschaftler und Ökonomen als Planer und Propagandisten eines »neuen, geeinten Europas« auf, auch der »Führer« selbst sprach gern von der »europäischen Neuordnung«, die »Frieden nach innen« bringen werde. Walther Funk, Reichswirtschaftsminister und Präsident der Reichsbank, setzte 1940 den Leitbegriff einer »Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft« in die Welt, und Fachleute entwarfen die ökonomische Architektur für einen »Großraum Europa«, mit einem gemeinsamen Binnenmarkt, mit Konzentration bei den Banken und in der Industrie, auch mit »europäischer Mobilität« der Arbeitskräfte. An eine gemeinsame europäische Armee war gedacht, in der Waffen-SS dienten ja schon Hunderttausende von Freiwilligen aus anderen Ländern Europas. Eine Reihe europäischer Länder sollte im künftigen »Großraum« formell Selbständigkeit behalten – politisch, wirtschaftlich und militärisch werde sich »die deutsche Führung ganz von selbst ergeben«, hieß es in den internen Entwürfen des NS-Regimes. Diesem »Neuen Europa« unter deutscher Hegemonie waren als globalpolitische Funktionen zugedacht: Machtkonkurrenz im Weltmarkt mit den USA und Großbritannien, geopolitischer Einflußgewinn in Afrika, dem Nahen Osten und am »eurasischen Rand«, Zerschlagung der Sowjetunion, Eingliederung des Baltikums und der Ukraine in das Herrschaftssystem der »europäischen Einheit«. Als die Niederlage Hitlerdeutschlands sich abzeichnete, machten sich SS-Intelligenzler und Ökonomen Gedanken darüber, wie Grundlinien ihres Entwurfs »europäischer Gemeinschaft« auch in einer neuen Machtkonstellation, nun unter atlantischem Schutz, weiter wirksam bleiben könnten.
Wer die »europäische Gemeinschaft« beschwört, so zeigt sich, hat dabei nicht unbedingt Freundliches für alle Europäer im Sinne. Und auch nicht für alle außereuropäischen Menschen.
A. K.
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hin ist Frankreich im Vergleich zu den meisten anderen EU-Staaten ein wirtschaftliches und politisches Schwergewicht. »Im schlimmsten Fall würde Frankreich von den anderen ausgeschlossen: Ein Drama. Dumm für Deutschland. Unser Eurofranc ist abgewertet, die französische Exportindustrie reibt sich die Hände, und wir bauen mit anderen Ländern etwas Neues auf. Im besten Fall würden Deutschland und die anderen Länder es nicht wagen, Frankreich auszuschließen und aus Angst vor Ansteckung die Neugründung des europäischen Projekts auf neuen Grundlagen in Angriff nehmen.«
Dem Front National die Nation klauen! – Das ist kurzgefaßt die Losung des Soziologen und Journalisten Frédéric Lordon. Die Entglobalisierung sieht er nicht als Verstoß gegen einen Internationalismus aus Prinzip. Denn dann müßte die Linke auch auf Kritik an der Deregulierung der internationalen Finanzströme verzichten mit der Begründung, daß dies auch ein Lieblingsthema der extremen Rechten sei. »Von links betrachtet hat die Souveränität keine andere Bedeutung als Volksherrschaft, also die größtmögliche Vereinigung aller Beteiligten bei Entscheidungsfindungen, die sie betreffen. Von rechts betrachtet ist der Ruf nach Souveränität nichts anderes als der Wunsch nach einer (legitimen) Wiederherstellung der Regierungsmacht, jedoch ausschließlich an qualifizierte Regierende, mit denen ›die Nation‹ aufgefordert wird, sich zu identifizieren – und dann die Hände in den Schoß legen.« Ganz abgesehen davon, daß historisch gesehen rechtsnationale Bewegungen ihre sozialistischen und kapitalkritischen Ansprüche stets umgehend aufgaben, wenn sie Regierungsmacht hatten.
In seinem im Januar erschienenen Buch »La Gauche radicale et ses tabous« (Die radikale Linke und ihre Tabus. Warum die Linksfront am Front National scheitert) spricht Aurélien Bernier, ehemaliger Attac-Aktivist und Autor bei
Le monde diplomatique, von den wichtigsten Denkverboten, die sich die Linke auferlegt. Da ist der Protektionismus, den die Linke bestenfalls auf europäischer Ebene durchsetzen will, um sich von den Rechtsnationalen abzugrenzen. »Ein süßer Traum« für Bernier, denn man wird nie alle Europäer unter einen Hut bekommen. Statt dessen plädiert er für einen französischen Protektionismus, zumindest für eine gewisse Übergangszeit.
Ein anderes Tabu sieht Bernier in einem unkritischen Umgang mit der europäischen Idee. Die schüchterne Kritik an den Brüsseler Institutionen und deren Geldpolitik spiele der Le-Pen-Partei in die Hände. Er erinnert daran, daß die PCF bis 1997 strikt gegen eine Einheitswährung war. Erst im März 2013 erwähnte dann Jean-Luc Mélenchon (Präsidentschaftskandidat der Linksfront 2012) anläßlich der Zypernkrise zum ersten Mal die Möglichkeit eines Euro-Ausstiegs. Schließlich das Tabu der nationalen bürgerlichen Souveränität: »Wie kommen sie (die radikale Linke) dazu, ins gleiche Horn wie die Ultraliberalen zu stoßen und die Schlußfolgerung zu ziehen, daß die nationale Souveränität obsolet sei?« Der massive Verlust von Identität, den viele Bürger in den europäischen Ländern erleiden, wird von der Linken kaum wahrgenommen. Die wachsende Verunsicherung, was Arbeitsplatz, Wohnung und soziales Umfeld betrifft, generiert eine diffuse Angst, die von rechtsextremen Bewegungen in Richtung Fremdenhaß und der Forderung nach dem starken Staat gelenkt wird. Unvergessen in diesem Zusammenhang bleibt der Erfolg, den Sarkozy seinerzeit mit seinem »Kärcher-Zitat« hatte: Er hatte versprochen, die kriminellen Vorstädte mit dem Dampfstrahlreiniger zu säubern.
Hier könnte die Linke beispielsweise mit Stadtteilgruppen, Rechtsberatung und Mediatoren dagegenhalten. Denn das Bedürfnis nach Sicherheit ist legitim und wird nur reaktionär, wenn es fehlgeleitet wird. Es ist bedauerlich, daß man es dem Front National gestattet, nationale Produktionsstätten zu fordern; die Reindustrialisierung hätte schon lange eine Kernforderung der Linken sein müssen. Auch der (in Frankreich noch mehr als in Deutschland) »militante« Atheismus bringt es mit sich, daß potentielle Bündnispartner vor den Kopf gestoßen werden. Der Wunsch nach einer gerechteren Gesellschaft ist bei vielen Gläubigen ein fundamentales Anliegen.
Währenddessen geht der Klassenkampf von oben weiter. Der Internationalismus des Kapitals bedroht nicht nur die Souveränität von Staaten, sondern auch die Sozialgesetzgebung einzelner Länder und die verbliebene Macht der Arbeiterorganisationen. Wenn die geplante Freihandelszone zwischen USA und EU Wirklichkeit wird, verliert selbst der Brüsseler Staatenbund an Relevanz. Geht es wirklich um die Frage, ob die EU noch reformierbar ist? Oder kann das soziale Europa nur auf den Trümmern eines an seinem radikalen Wirtschaftsliberalismus gescheiterten Kontinents aufgebaut werden?