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Titel514

Politik zum Mitsingen  (Victor Grossman)

Als ich Pete zum ersten Mal singen hörte, beeindruckte mich zunächst, wie bei dem langen, dürren Kerl die gestiefelten Füße und der Adamsapfel im Rhythmus mithüpften. Das war 1940. Ich war zwölf Jahre, ging in die 7. Klasse, und seine Tante, unsere Geschichtslehrerin, hatte den unbekannten jungen Sänger eingeladen. Durch meine Familie – und einen starken linken Trend im damaligen New York – war ich das, was man ein »rotgewindeltes Baby« nannte. Seit kurzem durch Stipendium an einer teuren Privatschule, stand ich als Linker recht allein unter den meist konservativen Mitschülern da. Pete sang Lieder über den kämpferischen CIO-Gewerkschaftsbund (Congress of Industrial Organizations), der mit mutigen Streiks die USA in vielerlei Hinsicht umkrempelte. Und das Überraschende: Alle Schüler sangen begeistert mit – mit mir, triumphierend, sicher am lautesten.

Für mich wurde Pete Seeger damals schon – und blieb es immer: ein Held. Später sang ich im linken Jugendverband die Lieder von Pete und seinen Almanac Singers, Woody Guthrie, Lee Hays, »Leadbelly«, die sie bei lockeren, informellen Konzerten, Hootenannys genannt, der Welt schenkten: neben neuen antifaschistischen Liedern (das war 1944/45) auch wunderbare alte Volkslieder.

Seeger wurde Soldat. Nach dem Krieg sang er weiter. Als ich an der Harvard-Universität studierte, organisierten wir von der KP-nahen Studentengruppe aus ein Konzert mit Pete. Wieder erlebte ich, wie Konservative, die seine und unsere Politik nicht mochten, dennoch begeistert mitsangen. Das war Petes Zauber, seine Philosophie: gemeinsam singen! Er konnte jedes Publikum dazu bringen, oft gar in mehrteiliger Harmonie. Nicht nur zum oft billigen Klatschen, sondern zum lauten Singen – mit offenem Mund und offenem Herzen. Das bedeutete, Scheu zu überwinden, Emotionen freien Lauf zu lassen. Und dabei nicht nur auf den Rhythmus, sondern auch auf den Text zu achten, denn seine Lieder enthielten Botschaften – von schöner (wenn auch oft enttäuschter) Liebe bis zum gemeinsamen Kampf der Menschen um ihre Rechte. Oft mit keckem Humor gewürzt.

Ich erlebte Pete im Wahlkampf für Henry Wallace 1948, als wir versuchten, eine neue, dritte, progressive Partei aufzubauen, mit vielen schönen Liedern – aber leider dann zu wenigen Wählerstimmen. Pete sang auch mit Paul Robeson bei unserem großen Open-Air-Konzert in Peekskill 1949; ein riesiger Erfolg – bis die Polizei uns bei der Rückfahrt auf eine Straße umleitete, wo Hunderte Männer uns mit Steinen bewarfen. Alle Scheiben meines Busses warfen sie ein; in Petes Auto landete ein Stein, den er als Mahnung im Kamin seines selbstgebauten Blockhauses verbaute. Es folgten harte Zeiten.

Pete und seine Mitsänger wurden als »kommunistische Verräter« denunziert und durch politischen Druck vom breiten Publikum ferngehalten. Er sang weiter, vor kleinen Gruppen, in linken Ferienlagern, vor Kindern, wo er nur konnte, immer bescheiden, immer Freude verbreitend. Doch er konnte auch hart sein. So verließ er ein zeitweilig sehr erfolgreiches Quartett, die Weavers, als die anderen Mitglieder, wie er in Geldnot, einen Reklame-Song für eine bekannte Zigarettenmarke machen wollten.

1955 lud man ihn – wie damals so viele – vor den Kongreß-Ausschuß für »unamerikanische Umtriebe«, wie immer mit dem Zweck, entweder das Opfer zum Verrat seiner Prinzipien und zur Denunziation von Freunden oder Genossen zu zwingen, oder, falls es das ablehnte, seine Karriere kaputtzumachen. Pete trotzte den Verhören und sagte: »Zu meinen Verbindungen, meinen philosophischen, religiösen Überzeugungen oder politischen Ansichten, meinem Wahlverhalten oder zu ähnlichen Privatdingen werde ich keine Frage beantworten. Ich meine, das sind sehr ungebührliche Fragen an einen Amerikaner, besonders in einer derart erzwungenen Situation.« Dafür bot er an, eines der beanstandeten Lieder vorzusingen (nicht ganz so gut ohne Banjo, fügte er hinzu). Humor jedoch verstanden solche Typen nicht. Pete Seeger wurde wegen »Mißachtung des Kongresses« zu zehn einjährigen Gefängnisstrafen (zusammenhängend abzusitzen) verurteilt. Er saß zwar nur einige Stunden, bis er auf Kaution freikam, doch ein siebenjähriger juristischer Kampf war nötig, um das Urteil (aus formalen Gründen) zu annullieren. Aber – typisch Seeger – in den wenigen Stunden hatte er von Mithäftlingen ein neues Lied gelernt!

In den 1960ern entspannte sich die Situation. Senator McCarthy war tot, die Bewegung der Schwarzen wurde stärker wie auch die gegen den Vietnamkrieg. Endlich schien der Boykott durch die Fernsehsender vorbei, Seeger wurde zu einer Show eingeladen. Doch als er die Sendung später auf seinem Fernseher anschaute, staunte er nicht schlecht: Sein wichtigstes Lied – gegen den Krieg (und den Präsidenten) – war rausgeschnitten worden.

Die Kinder, die ihn früher gehört hatten, waren inzwischen Jugendliche, sie sangen und spielten Petes Lieder, auch beim großen Newport Folk Festival. Neue Songs kamen hinzu oder wurden durch ihn populär: »We Shall Overcome« etwa, früher eine Hymne der Schwarzen und von Streikpostenketten, oder »Guantanamera« mit Text (von José Martí) und Melodie aus Kuba. Und »Sag mir wo die Blumen sind«. (Pete schrieb mir, die deutsche Übersetzung, von Marlene Dietrich gesungen, passe noch besser zur Melodie als sein eigener Text.) »Wimoweh« kam vom Ringen gegen die Apartheid. Lieder gegen die Umweltverschmutzung, die er auf seinem Nachbau eines alten Hudson-River-Seglers in Häfen des langen Flusses sang, halfen im harten Kampf um dessen ökologische Sanierung. Dann gab es das wunderbare Friedenslied »Turn, Turn, Turn«, mit Worten direkt aus der Bibel, und viele weitere Songs. Und überall nahm er das immer größer werdende Publikum mit – es sang mit ihm, nunmehr auch auf Reisen durch Asien, Afrika und Europa.

Endlich, 1967, kam Pete nach Deutschland. Bis dahin war er diesem Reiseziel ausgewichen, denn er fürchtete, jemanden in seinem Alter zu treffen: »Ich würde mich fragen: Was hat er 1938 oder 1942 gemacht? … Dann begriff ich, daß das absurd war. In späteren Jahren würden Amerikaner bestimmt ähnliche Blicke ernten: Was haben die wohl 1967 gemacht?«

Pete sang in beiden Teilen Berlins. Ich hatte das Glück, in Ostberlin für ihn, seine Frau Toshi und Tochter Tinya zu dolmetschen. Mein erster Eindruck: Eine bescheidene Familie. Seegers wollten nicht in den VIP-Empfangsraum des Flughafens. Was sie interessierte, war: Wie sind denn diese Ostberliner? Eine kleine Gruppe junger Leute (der Hootenanny-Klub, später als Oktoberklub die Keimzelle für die Singebewegung der DDR, mit allen seinen Erfolgen und Problemen) kannte seine Lieder und sang alle mit. Aber in der großen Volksbühne?

Seeger sang »Schtill, di nacht is ojsgeschternt«, 1943 von einem jüdischen Partisanen vor dessen Ermordung geschrieben; im Saal herrschte absolute Stille. Was hatte das zu bedeuten? Dann folgten »Die Moorsoldaten« und – alle sangen mit. (»Ich hörte es so gefühlvoll gesungen wie sonst nirgendwo«, schrieb er später.) Nun erleichtert, sang er »Lisa Kalvelage«, über eine deutschen Frau, in Nürnberg aufgewachsen und nach den USA verheiratet, die beschloß, diesmal angesichts übler Vorgänge nicht passiv zu bleiben – und sich daraufhin vor einen für Vietnam bestimmten Napalmtransporter stellte. Aus ihrer Aussage vor Gericht machte Pete Seeger ein Lied – in Berlin wurde es sofort verstanden. Wie auch die anderen Lieder, ernste und weniger ernste. »Ja«, stellte er fest, »auch Berliner, Ost- wie West-, haben gern und laut mitgesungen.« (Wie wichtig wäre es, wenn das Die Linke wiederentdeckte und ausprobierte!)

1986 kamen Pete und Toshi erneut nach Berlin, zum Festival des politischen Liedes. Sie hielten Augen und Ohren offen, lernten Stärken und Schwächen des Landes kennen, soweit das in der Kürze der Zeit möglich war. Pete war und blieb immer aufgeschlossen, interessiert. Seit den 1950ern nicht mehr Mitglied der Kommunistischen Partei blieb er doch immer »im Geiste kommunistisch«, wie er sagte, und entschiedener Gegner der in- und ausländischen Kriegstreiber in Vietnam, im Irak oder sonstwo, Gegner der Rassisten und des »einen Prozents da oben«. Als 92jähriger zog er mit zwei Gehstöcken in der vordersten Reihe der Occupy-Bewegung durch Manhattan. In den letzten Jahren litt seine Stimme, aber nicht sein Banjospiel oder sein Kampfgeist. Auch nicht seine grauen Zellen; keine drei Wochen vor dem Tod war er dabei, ein schönes Sonett von Shakespeare zu lernen.

70 Jahre waren Pete und Toshi verheiratet. Als Toshi im Juli 2013 starb, wurde Petes Leben einsamer. Nun sind auch die hüpfenden Stiefel, die menschliche, optimistische Stimme und sein Banjo nicht mehr zu bewundern. Zum Glück bleiben uns hunderte Alben und wer weiß wie viele Lieder! Und es bleiben viele Erinnerungen an einen einmaligen Menschen.

Eine kleine Anekdote, typisch für Seeger, zum Schluß: Vor seinem großen Auftritt in der Volksbühne, beim Abendbrot im Hotel, lag auf einmal eine schön gefaltete Serviette auf seinem Teller, mit einem Kärtchen: »Lieber Herr Seeger, ich liebe Ihre Musik. Kann ich für Ihr Konzert eine Karte bekommen?« Unterschrieben hatte es »ein Kellnerlehrling«. Ich übersetzte Pete die Zeilen.

»Unmöglich!« sagte der Konzertmanager. »Nicht mal hohe Funktionäre erhalten Karten.« Pete schaute Toshi an, sie nickte. Er sagte: »Der junge Mann kommt rein, und wenn er am Bühneneingang mein Banjo trägt!« Und genau so geschah es!