Nach der »Wirtin« folgte an der Volksbühne ein wirklicher Hoffmann, der mit dem Text »Die Menschenfabrik« des herrlich verrückten, in Deutschland gehaßten, verfolgten und bestraften, vorwiegend dramatischen Dichters Oskar Panizza montiert ist: »Der Sandmann«, dramaturgisch bearbeitet von Thomas Martin, inszeniert von Sebastian Klink und mit Kostümen von Thomas Schuster. Es spielt ein Ensemble von zehn Schauspielern. Und es geht um einen künstlichen Menschen, um das Klonen und alle Entsetzlichkeiten darum, das hervorgerufene schlechte Gewissen, schon von Hoffmann und Panizza vorgedacht und in Wort und Bild gestellt. Generell thematisiert das Stück »die Künstlichkeit menschlichen Daseins«. Es ist ein wenig Theater des Absurden, doch die vorstellbare Grauenhaftigkeit all dieser Eingriffe kommt beim besten Willen nicht über die Rampe. Das Ganze wirkte gekünstelt und erreichte so das Thema »Künstliche Menschen« nicht.
Vor Jahrzenten gab es den Streit über »armes Theater« und »reiches Theater«, ausgelöst durch Jerzy Grotowski. Was bei ihm ernstgemeint war, eine Ästhetik der Mittel, wird allmählich zur Armseligkeit. Wenn Leuten gar nichts mehr einfällt wie der Gruppe von Gob Squad, so sammeln sie Abfälle, vor allem geistige, und machen Performances, etwa so fragwürdige wie »Revolution now!«, so entsetzliche wie »Dancing about«. Da werden Volksgruppen gebildet, wie »Söhne und Töchter von Alkoholikern«, »Wir masturbieren, um uns zu entspannen«, »Wir kauen unsere Fingernägel ab …« und finden das auch noch schick. Etwas höhere Gruppen sind »Atheisten« und »Optimisten«. Sie meinen, das alltägliche Leben zu finden und zu zeigen, zeigen aber meist nur das unter der Gürtellinie, im Müll und im Ordinären. Es ist übelster »Naturalismus«, Gerhart Hauptmann und Arno Holz, Johannes Schlaf oder Bjørnstjerne Bjørnson vor 100 Jahren sind dagegen harmlose Waisen. Nur Verfall darzustellen – o je, bei Joyce und Beckett war das noch Kunst. Wie tief seid ihr gesunken, was soll man damit noch anfangen? Ist das noch Tiefe, oder sind wir bereits am Ende?
Von ähnlich belanglosem Denken, nur besser gemacht und zynisch gewürzt »Fucking Liberty«. Es geht um den amerikanischen Traum und sein vorhersehbares Ende. Viel an Menschen und Material wird aufgeboten. Die Angerer, die Rois, die Spassova, und das ganze »Theater« führt Ulli Lommel, der Hollywoodmacher. Er zeigt 3D-Filme, und Zuschauer erhalten entsprechende Brillen beim Eintritt. Sehr blaß das Ganze, trotz Brillen. Und sehr laut! Der szenische Raum erscheint als Mickey-Mouse-Maske mit Hochhausumrissen, in dieser Weise vom Szenografen Bert Neumann gebaut. Schließlich wird der ganze »Traum« einschließlich Sklaverei noch am Hof von Elisabeth I. (Irm Hermann) ihrem Hofnarren (Bernhard Schütz) erzählt – eine Perspektive völlig dubioser Identität – auch für den Zuschauer. Kritische Satire ist das nicht. Lommel müßte als Fassbinder-Adept und Schauspieler eigentlich mehr von Raum und vor allem von Geschichte verstehen, denn so läppisch war ja dieser US-Traum nicht: Neben großer Geschichte steht Entsetzlichkeit, doch auch das im großen Maßstab: Hier ist alles klein, niedlich, pinnig. Der dämlich-zynische Titel des Abends hätte einen gleich warnen müssen, er war ehrlich – man hätte wissen müssen, daß da zu viel Banalität und Falsches daherkommen werden.
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Nun vom Luxemburg- zum Bertolt-Brecht-Platz. Immer wieder gehe ich gern ins Berliner Ensemble hinein, die Atmosphäre ist anheimelnd, der alte Meister lächelt von seinem Postament auf Cremersche Weise einladend, als ob er zum Festessen mit Helene Weigel ginge. Ja, da ist immer etwas von dieser Mischung von Theater normal in Straßenkleidung und der Haltung: Hier wird Großes und das über euch und uns verhandelt. Claus Peymann pflegt an diesem Haus eine Tradition der Publikumsgespräche. Nur zwei Beispiele: Zu der länger laufenden, so schönen wie intelligenten Inszenierung »Nathan der Weise« gab es mehr als 20 Gespräche, ähnlich viele zu »Frühlings Erwachen«. Eine zweite begrüßenswerte Programmlinie dieses Theaters ist die Lesereihe »Vergessene und verbotene Theaterstücke der DDR«. Das haben diese Stücke und ihre Autoren verdient, auch wenn es schlechte beziehungsweise mißratene Stücke gab: Eine neue, nur mühsam aus materiellen und psychischen Trümmern sich entwickelnde Literatur und Theaterkunst ist eben auch Geschichte und erinnernswert. Schauspieler und Regisseur Manfred Karge und Dramaturg Hermann Wündrich haben das Unternehmen gestartet: Am Anfang stand Heinar Kipphardt »Shakespeare dringend gesucht«, uraufgeführt 1953 im DT, eine Inszenierung von Herwart Grosse, die ich 1955 anläßlich meines ersten Deutschlandbesuches wahrnehmen konnte. Mein zerlesenes und eingestrichenes Buchexemplar bezeugt noch eine von mir besorgte Inszenierung durch das Studententheater Jena im Jahre 1958. Ich spielte zuerst den Autor Raban, später auch den Dramaturgen Amadeus Färbel, da sich die Inszenierung durchgesetzt und länger als gedacht gehalten hatte und auf Wunsch in mehreren Universitäten gezeigt worden war. (1964 kam vom selben Autor »In der Sache J. Robert Oppenheimer« unter Piscator in der Freien Volksbühne Berlin/West, 1965 im BE unter Wekwerth/Tenschert.) Nur eine schöne Wiederbegegnung? Ärger mit Kulturbehörden, gar Parteien soll es ja noch gegenwärtig geben, fremd wirkt das Stück gar nicht.
Noch bemerkenswerter fand ich die Erinnerung an Alfred Matusche (1909–1973) und sein spätes Stück »Kap der Unruhe« (Uraufführung 1970 in Potsdam, inszeniert von Rolf Winkelgrund). Das war nicht nur ein bedeutender Dramatiker, sondern auch ein liebevoller und bescheidener Mensch. Ich hatte als sein Lektor und Verleger viel mit ihm zu tun. Wir brachten im Henschelverlag ab 1960 zahlreiche Einzelstücke, 1971 fünf Hauptwerke in der Sammelausgabe »Dramen«, postum 1979 seine letzten vier Stücke in der Reihe »Dialog«.
Es bieten sich noch einige andere DDR-Autoren an: Ich denke an Volker Braun; des weiteren Günther Rücker, zwar eher Hörspielautor, doch auch auf dem Theater, unter anderem »Der Herr Schmidt. Ein deutsches Spektakel mit Polizei und Musik«; Joachim Knauth wäre zu empfehlen, etwa »Arentino oder Ein Abend in Mantua«. Und man sollte Rudi Strahl prüfen – Komödienautoren gibt es nicht viel in deutscher Sprache.