»Viel Krachbumm, wenig Herz«
übertitelte der Berliner Kurier seinen Bericht über die Eröffnung der Olympischen Winterspiele von Sotschi. »Staatspräsident Putin ließ […] mit einem krachenden Spektakel inszenieren […] Dann wurde die ganze Zeremonie im Olympiastadion […] durch ein donnerndes Feuerwerk fast schon wieder aus den Gehirnen der 40.000 Zuschauer geblasen.« Diese offensichtlich gefährliche Körperverletzung wurde verschlimmert durch eine »ohrenbetäubende Lautsprecheranlage« und die »übliche olympische Propaganda« bei den Eröffnungsreden. Als »Propaganda« ist offensichtlich auch die Aufforderung des deutschen IOC-Präsidenten Thomas Bach an die Politik zu bewerten, »Meinungsunterschiede in einem friedlichen Dialog […] und nicht auf dem Rücken der Sportler« auszutragen. Den Vogel der Demagogie schoß wohl dann Putin selber ab, als er seine Ansprache auf den hinterhältigen Satz »Ich erkläre die XXII. Olympischen Winterspiele für eröffnet« beschränkte. Da stockte selbst dem Autor LOR die flüssige Feder, er wird über diesen gewichtigen Satz und seine Interpretation noch gründlich nachdenken müssen.
Die Bewerbung um die Spiele war »keine verrückte Idee, sondern […] eine richtige Entscheidung« betonte Putin tags darauf laut Berliner Morgenpost im russischen Staatsfernsehen. Gerade, weil es immer noch »notorische Russenfeinde« gäbe, die »gezielt, berufsmäßig gegen die Russen kämpfen«.
Manche Fernsehkommentare im Vorfeld und bei der Eröffnungszeremonie verursachten ein zwiespältiges Geschmäckle. Man merkte die Absicht, und man war verstimmt. Da freute man sich wenigstens über Rudi Czernes Versprecher, die olympische Flagge würde »hereingetreten« statt »hereingetragen«. Glücklicherweise wurde dieser Lapsus durch eine technische Panne der Veranstalter kompensiert, als sich nur vier von fünf riesigen Schneeflocken zu olympischen Ringen entfalten wollten. Es geht doch nichts über Schadenfreude!
Die kam auch auf, als Ministerpräsident Medwedew bei der Eröffnung erschöpft einschlief. Spöttische Kommentare ließen laut Berliner Morgenpost nicht auf sich warten: »Die Olympischen Spiele – gesehen durch Medwedews Augen«.
Zugegeben, die deutschen Medien haben einen Spagat zwischen der Wiedergabe internationaler Olympia-atmosphäre und der Anprangerung russischer Menschenrechtsverletzungen zu bestehen. Zugegeben, gleichgeschlechtliche Beziehungen sind im Rußland unserer Tage offensichtlich noch ein sensibles Thema.
Zur Erinnerung: Als 1972 die von Willi Daume im Vorfeld als »heiter« angekündigten Olympischen Spiele von München über die Bühne gingen, standen »sexuelle Handlungen zwischen Personen mit demselben menschlichen Geschlecht« in Deutschland unter Strafe, und das noch bis 1994. Der gegenwärtigen Argumentation folgend hätten die Spiele damals folglich in einem Lande stattgefunden, das die Menschenrechte mißachtete, und das sogar mit legalen Mitteln.
Bleiben wir noch ein wenig bei den »heiteren« Spielen von 1972. Nachdem in München israelische Aktive und Trainer überfallen und ermordet wurden, sind die Sicherheitsmaßnahmen in allen Ausrichterländern im Interesse der Teilnehmer und ihrer Gäste wesentlich verschärft worden, und das war auch gut so. In London 2012 entstanden dadurch Kosten in Millionenhöhe, und das Gewimmer einiger Journalisten und Politiker über Stacheldraht und Kontrollschleusen in Sotschi kann man getrost in den Bereich der Krokodilstränen verweisen. Nicht vorstellbar, wie die Medien die Veranstalter an den Pranger stellen würden, träten Sicherheitsmängel zutage. Beschwerden deutscher Sportberichterstatter über in ihren Hotelzimmern herabgefallene, da ungenügend befestigte Gardinenstangen und verstopfte Badewannenabflüsse wollen wir davon mal unberührt lassen.
Mit weiteren in den Medien erhobenen Vorwürfen über die Ausbeutung und tarifferne Vergütung von Olympiaarbeitern wollen wir uns nicht auseinandersetzen. Parallelen aus unseren Breitengraden würden den Umfang unseres Beitrages bei weitem überschreiten. Einige Blätter, darunter die junge Welt, beklagen, das »Spektakel von Sotschi« sei »viermal teurer als geplant. Und umweltschädlich dazu«. Mit dem Flughafen Berlin-Brandenburg beispielsweise hat Deutschland in dieser Hinsicht aber auch einiges zu bieten.
Da halten wir es mit unserem Ex-Bundeskanzler und Rußland-Kenner Schröder, der in dieser Phase Zivilcourage bewies und die bundesdeutsche Berichterstattung im Vorfeld und in der Anlaufphase der Olympischen Spiele als »Katastrophe« bezeichnete.
Schade, daß sich unser Bundespräsident, unsere Kanzlerin, unsere Verteidigungsministerin und unser Außen-minister an anderen Fronten des Weltgeschehens, so in Indien, Afrika und Afghanistan, um die Menschenrechte bemühen mußten und sich nicht die Zeit nehmen konnten, den Start eines weltumspannenden und friedensfördernden Ereignisses vor Ort mitzuerleben und durch ihre Anwesenheit aufzuwerten.
Hoffen wir, daß die Spiele in einer völkerverbindenden Atmosphäre verlaufen und unseren Athleten einen verdienten Medaillensegen bescheren. Und von den Medien wünschen wir uns etwas mehr Herz und etwas weniger Krachbumm.
Wolfgang Helfritsch
Grüner Ukraine-Einsatz
Die Fraktionschefin der Grünen im Bundestag hat harsche Kritik an der Ukrainepolitik der Bundesregierung geübt, sie will stärkere Interventionen Deutschlands zugunsten der Opposition gegen den Präsidenten Janukowitsch. Vor ihrer Reise zu einem erneuten Auftritt in Kiew gab Katrin Göring-Eckardt der Tageszeitung
Westfalen-Blatt (Bielefeld) ein Interview, in dem es heißt, die »proeuropäische Bewegung« in der Ukraine dürfe »nicht daran scheitern, daß die Bundesregierung sich zurückhält, weil manche vor allem gegenüber Herrn Putin Samthandschuhe anziehen«. Sie finde es »bewundernswert«, wie »die Ukrainer« sich gegen das Regime auflehnten, das Land sei »eigentlich ein Teil von Europa«. Auf die Probleme einer Integration der Ukraine in den EU-Binnenmarkt geht Göring-Eckardt im Interview nicht ein, die gegensätzlichen Meinungen und Interessen in der Ukraine zum Anschluß an die EU-Politik erwähnt sie mit keinem Wort, auch nicht die rechtsextremistischen Tendenzen innerhalb der dortigen Opposition. Offenbar will die Grünen-Politikerin ihre Partei gegenüber der Großen Koalition durch mehr Militanz in Sachen »Ostland-Ritt« der EU profilieren. »Man kann nicht vor Putin kriechen« – sagt Göring-Eckardt an die Adresse der Bundesregierung. Schon für die deutsche Beteiligung am Krieg gegen Jugoslawien machte sie sich seinerzeit stark, nach eigener Aussage aus »christlicher Verantwortung« – ein gründeutsches »Gott mit uns«.
M. W.
Zwillingsbrüder? Todfeinde?
Der Begriff »Hitler-Stalin-Pakt«, wie ihn die vorherrschende deutsche Geschichtspublizistik verwendet, dient gewöhnlich der Gleichsetzung von Rot und Braun. Die historischen Quellen (ich empfehle besonders die Memoiren des langjährigen Sowjetbotschafters in London, Iwan Maisky) geben dafür wenig her. Sie zeigen im Gegenteil, wie sich die sowjetische Diplomatie um ein Anti-Hitler-Bündnis mit Frankreich und Großbritannien bemühte – vergeblich. Unter der Schirmherrschaft des früheren polnischen Außenministers Wladyslaw Bartoszewski werden sich am 21./22. Februar Wissenschaftler aus mehreren Ländern in der Freien Universität Berlin mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 befassen, den Hitler am 22. Juni 1941 mit dem Einmarsch in die Sowjetunion brach. Zu den Veranstaltern gehören die Deutsch-Polnische Gesellschaft, die Deutsch-Polnische Akademische Gesellschaft und die Internationale Föderation der Widerstandskämpfer. Bei der schlichten Eingangsfrage »Zwillingsbrüder oder Todfeinde?« wird es da bestimmt nicht bleiben. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat die Förderung der Konferenz abgelehnt. Die von ihr gepflegte Totalitarismus-Doktrin könnte einige Kratzer bekommen. Anmeldung:
konferenzbuero@polen-news.de
E. S.
Großdeutsche Hausratverwertung
Im Beitrag »Keine Freude an der Restitutionsdebatte« (
Ossietzky 2/14) hat Thomas Rothschild zu Recht erklärt, daß seinerzeit der Prozentsatz reicher Kunstwerkbesitzer unter den Juden genauso gering war wie im Rest der deutschen und österreichischen Bevölkerung. Die heutige Kaprizierung auf die Rückgabe von Kunstwerken, so meint er dann allerdings, bagatellisiere »die überwältigende Zahl der Fälle, in denen die Nachbarn das Geschirr und die Wintermäntel aus den Wohnungen der deportierten Juden holten«. Doch diese »überwältigende Zahl der Fälle« hat es im »Großdeutschen Reich« in dieser Form wohl nicht gegeben. In anderer schon.
Es stimmt, daß ein beträchtlicher Teil des Hausrats der Deportierten bei österreichischen und deutschen »Volksgenossen« geendet ist; den haben sie aber weniger aus Nachbarwohnungen geholt, als auf NS-»legale« Weise ergattert.
Heimlich Sachen aus den Wohnungen der Deportierten zu stehlen, hätte bedeutet, sich mit dem Staat anzulegen, und das haben »überwältigend« viele Deutsche und Österreicher damals auf keinen Fall riskiert. Der NS-Staat hat bei den Deportationen auch die »Verwertung« des zwangsweise zurückgebliebenen Eigentums organisiert. Er ließ den Hausrat beschlagnahmen und die Wohnungen amtlich versiegeln. Die bewegliche Habe der Deportierten wie Möbel, Geschirr, Bekleidung wurde dann an »Ausgebombte« und andere bedürftige »Volksgenossen« verteilt oder auf öffentlichen Versteigerungen für die Staatskasse zu Geld gemacht.
Welcher Andrang bei solchen Auktionen herrschte, zeigen zwei Fotos in dem 2013 vom Dreiländermuseum herausgegebenen Ausstellungsbegleitband »Lörrach und der Nationalsozialismus« (ISBN 978-3-9814362-2-8). Es sind seltene Dokumente, denn obwohl diese Versteigerungen in einer ganzen Reihe von Städten stattfanden, sind sie kaum je fotografisch festgehalten worden.
Das eine oder andere in der Nazizeit ersteigerte »gute Stück« wird in manchen deutschen wie österreichischen Familien wohl noch an die Kinder und Kindeskinder weitergereicht worden sein – großdeutsches Erbe mit mörderischem Hintergrund.
I. D.
Filmnachwuchs
Immer im Januar wird Saarbrücken zu einem Seismograph für die Befindlichkeit des Filmnachwuchses in Deutschland, Österreich und der Schweiz, jetzt schon zum 35. Mal. 71 Spiel- und Dokumentarfilme konkurrierten um den nach dem gebürtigen Saarbrücker Regisseur benannten Max-Ophüls-Preis sowie um weitere Auszeichnungen. Erfreulich die thematische und formale Vielfalt des Angebots, wobei die Genres vom Drama über Polit-Thriller bis zum Horror reichten. War in den vergangenen Jahren ein Rückzug ins Private zu beobachten, so konnte man diesmal viele auch aktuelle soziale und politische Realitätsbezüge entdecken.
Vorbild für Daniel Harrichs »Der blinde Fleck« war die 30 Jahre dauernde Recherche des Journalisten Ulrich Chaussy zu den Hintergründen des Bombenanschlags auf das Münchner Oktoberfest, der am 26. September 1980 13 Menschen das Leben kostete. Offensichtliche Kontakte des Täters zur rechtsextremen Szene wurden vertuscht. Parallelen zu den NSU-Morden liegen nahe und können auch beim bereits erfolgten Kinoeinsatz des mit Benno Fürmann und Heiner Lauterbach prominent besetzten Films nachvollzogen werden.
Kaum sonderlich beachtet leben inzwischen über fünf Millionen »Rußlanddeutsche« in Deutschland. Anna Hoffmann, Absolventin der Filmakademie Baden-Württemberg gehört zu ihnen, was der Authentizität ihres Films »Poka« (Tschüß) zugute kommt, der auch die Enttäuschungen von lieblos in Containern untergebrachten Aussiedlern aus Kasachstan nicht verschweigt. Erfahrungen wie sie ähnlich auch die Ostberliner Protagonistin von Christian Schwochows Film »Westen« in den 1970er Jahren im Westberliner Notaufnahmelager machen muß.
An ein vergessenes Kapitel deutscher Geschichte erinnert Rick Ostermann mit »Wolfskinder«: die Odyssee einer kleinen Gruppe Kinder, die sich nach der Besetzung ihres heimatlichen Dorfes durch sowjetische Soldaten 1946 in Ostpreußen ins benachbarte Litauen durchschlagen. Bestechende Landschaftsaufnahmen als Hintergrund einer authentischen Geschichte, die auf eine historische Verklärung der Opfer des Zweiten Weltkriegs verzichtet. Eine gestohlene Kindheit wie sie heute in Syrien und Afrika Parallelen findet.
Das Wagnis eines künstlerischen Experiments ging Anna Martinetz mit ihrem Abschlußfilm an der Hochschule für Fernsehen und Film München ein, eine von mehreren Hochschulproduktionen beim Festival. Sie verlegt Arthur Schnitzlers Novelle »Fräulein Else« aus deren Entstehungszeit 1924 ins Heute, wo ein kleiner Kreis von millionenschweren Profiteuren der Weltfinanzkrise sich in einem entlegenen indischen Luxusresort Urlaubsfreuden hingibt. Kostüme von damals und der Text des Originals betonen als Verfremdungseffekt die Zeitlosigkeit einer Geschichte von bürgerlich starren Konventionen und der Macht des Geldes.
Im realen Ambiente eines heutigen Luxushotels hat dagegen Jakob Lass auch mit Laien seinen Film »Love Steaks« gedreht. Im Mittelpunkt die gegensätzliche Beziehung zwischen zwei dort Beschäftigten – Masseur und Köchin. Nicht ohne komische Momente auch ein Film über die Härten der Arbeitswelt. Mit den Weihen des Max-Ophüls-Preises ist ihm ein Kinostart sicher.
Heinz Kersten
Kein verkrustetes Überbleibsel
Günter Bensers neue Publikation ist eine Skizze zur Geschichte des Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung (IfGA), der Nachfolge-Einrichtung des Instituts für Marxismus-Leninismus (IML beim ZK der SED). Bensers vorzüglicher Beitrag zur deutsch-deutschen Wissenschaftsgeschichte in der Wendezeit umfaßt einen ereignisreichen Zeitraum: Es geht um die Lebensdauer des am 4. Januar 1990 gegründeten und am 31. März 1992 erloschenen Instituts.
»Von unserem Institut«, notierte er in seinen vor 13 Jahren publizierten Erinnerungen »DDR – gedenkt ihrer mit Nachsicht«, »war mit dem Ergebnis des Außerordentlichen Parteitages erst einmal die drohende Gefahr abgewendet, das wir juristisch und ökonomisch ins Leere stürzen.« Die Broschüre über den Überlebenskampf des Instituts knüpft hier unmittelbar an. Benser arbeitet fünf deutlich unterscheidbare Entwicklungsetappen heraus: Die erste Phase reicht von der Gründungserklärung am 27. Oktober 1989 bis zur Gründung am 4. Januar 1990; weitere Zäsuren bilden die Volkskammerwahlen am 18. März 1990, die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 sowie die Sperrung der Konten durch die Treuhandanstalt am 1. September 1991.
Dabei kommentiert Benser die Situation in der SED/PDS, die rasante Entwicklung im eigenen Land, die Perestroika in der Sowjetunion und die Reaktionen von am Institut Beschäftigten, Vertretern dreier Generationen. Jeder war gezwungen, sich zu positionieren und sich neu zu orientieren. Aufschlußreich sind seine Bemerkungen über die sich damals neu formierende Parteizentrale, und deren Repräsentanten, von denen viele keinerlei Vorstellung von dem im IML konzentrierten wissenschaftlichen Potential hatten.
Ein Spiegelbild dessen war die in der vorliegenden Broschüre nur angedeutete Entstehungsgeschichte der parteinahen Stiftung und der Historischen Kommission, die unbedingt fortgeschrieben werden sollte. Das trifft auch auf die Konfliktlagen zwischen den damals aufgelösten, abgewickelten oder schlichtweg implodierten Parteieinrichtungen sowie den die Entwicklung des IfGA begleitenden kritischen Stimmen – wie die des Unabhängigen Historikerverbandes – zu. Benser liefert die Stichworte, die aufgegriffenen und sachlich debattiert werden sollten.
Bibliothek, Archiv und das im Institut verankerte Editionsprojekt der Marx-Engels-Gesamtausgabe waren auf der Suche nach neuen Existenzformen und Partnern im In- und Ausland. Oft kann der Verfasser nur andeuten, was in seiner Amtszeit als Direktor alles versucht worden ist. Es geht unter anderem um Arbeitsbeziehungen zu Institutionen wie dem Bundesarchiv, der Friedrich-Ebert-Stiftung, dem Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam, um Kontakte zu Personen wie Willy Brandt, Henryk Skrzypczak, Hermann Weber und Richard von Weizsäcker.
Das von Benser gezogene Fazit lautet: »Das Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung hat in der kurzen Zeit seiner Existenz nicht nur Lern-fähigkeit bewiesen, sondern seinen unverwechselbaren, auch international anerkannten Beitrag zur geistigen Neuorientierung vor allem in Ostdeutschland geleistet. Was durch Treuhandanstalt und Unabhängige Kommission ausgeschaltet wurde, war nicht ein verkrustetes Überbleibsel des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, sondern eine in ihren Inhalten selbstbestimmte wissenschaftliche Einrichtung mit einem Profil, das den damaligen und heute anhaltenden geistigen Auseinandersetzungen Rechnung trug.«
Wladislaw Hedeler
Günter Benser: »Aus per Treuhand-Bescheid. Der Überlebenskampf des Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung. Mit einem Dokumentenanhang«, edition bodoni, 238 Seiten, 18 €
»Communisten« sind erträglicher
Neuschwanstein ist die beliebteste Touristenattraktion in ganz Deutschland. Gründer und Bauherr war König Ludwig II. (geboren 1845, gekrönt 1864, gestorben 1886), der über seinen Schloßbauten das Land und sich selbst in den Mega-Bankrott trieb. »Immobilien-Blase« würde das heute heißen, aber sicherlich würde sich auch jemand finden, der die Investitionen bis zum heutigen Tag hochrechnet und als genial und vorausschauend lobt. »Nebenbei« förderte der König die Demokratie in Baiern, doch sollte das Parlament nur von Königs Gnaden sein.
Er war Musik- und Theaterfan: Nicht zufällig ist der Verfasser der bei Siedler erschienenen, aller Aufmerksamkeit werten Biographie Musik-historiker. Ludwigs höchste Verehrung galt Richard Wagner. Gerne bestellte er sich Theatervorstellungen für sich als einzigen Zuschauer. Mit höchster Wahrscheinlichkeit (Hilmes hat auch neue Quellen durchforscht) liebte er Männer; ein Verlobungsversuch scheiterte grandios (Herzogin Sophie bemühte sich vergeblich).
Der krasseste Widerspruch: Ludwig II. hatte nur widerstrebend bairische Truppen gegen Frankreich kämpfen lassen und sträubte sich, soweit es ging, gegen das Aufgehen Baierns im Deutschen Reich. Doch Wilhelm I., König von Preußen und ab 1871 Kaiser des Deutschen Reichs, brachte ihn mit Geld- und Prestige-Vorteilen dazu, in Versailles mit wehender Fahne für die Reichsgründung schauzulaufen! (Im Grunde wie 1949, als Bayerns Standpunkt war: Zu einer »Bundesrepublik Deutschland« wollen wir eigentlich nicht gehören, aber wenn alle anderen Länder das wollen, dann na ja ... Und die Extra-Partei CSU, mit Blüten wie Franz Josef Strauß, blieb als bayerischer Sonderweg.) Sogar Vorläufer der CSU kommen in Hilmes Buch vor, die »Ultramontanen«; aber Ludwig II. fand die »Communisten« erträglicher als sie! Hat er die Münchner Räterepublik vorausgesehen?
Als Ludwig schon in psychiatrischer Betreuung war, ertrank er – wahrscheinlich wollte er sterben – im Starnberger See. Es zog ihn einfach weg; vorher gab es Vermutungen, daß er sich in Südamerika oder auf den Kanarischen Inseln ein neues Königreich »besorgen« wollte, sich globalisieren – hochmodern.
Richard Herding
Oliver Hilmes: »Ludwig II. Der unzeitgemäße König«, Siedler Verlag, 447 Seiten, 24,99 €