Zu Zehntausenden kommen Flüchtlinge aus dem Kosovo nach Deutschland. Unerwünscht. Abschieben, schnellstens! Der übliche Empfang.
Aber wieso kommen die überhaupt? Warum bleiben sie nicht im Kosovo? Hat da nicht 1999 die Westliche Wertegemeinschaft großzügig für Demokratie, Wohlstand und Glück gesorgt? Hat nicht die NATO den Kosovaren mit Granaten und Raketen einen unabhängigen Kleinstaat geschenkt, unabhängig von Serbien, dessen Bestandteil das Kosovo jahrhundertelang gewesen war? Und ist in das Ländchen nicht auch viel Geld geflossen, mit dem unter anderem Moscheen errichtet, aber auch von Bomben beschädigte serbisch-orthodoxe Kirchen repariert wurden? Was haben die Kosovaren denn jetzt in Deutschland zu suchen?
Als Fluchtgründe geben sie an, in Kosovo hätten sie und ihre Kinder keine Perspektive, vor allem keine Arbeit. Die deutschen Behörden akzeptieren diese Begründung nicht: Für Armutsflüchtlinge, auch Wirtschaftsflüchtlinge genannt, gebe es in Deutschland keinen Platz.
Niemand scheint sich an die Hunderttausende von Westdeutschen zu erinnern, die Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre in die USA, nach Kanada oder Australien auswanderten, einfach deswegen, weil sie annahmen, dort schneller ihr Glück machen zu können? Ich erinnere mich genau: Mein älterer Bruder gehörte zu den Auswanderern. Ein Armuts- oder Wirtschaftsflüchtling.
Den völkerrechtswidrigen Bombenkrieg gegen Serbien versuchte die NATO damals mit der frei erfundenen Behauptung zu rechtfertigen, die Serben hätten die Absicht, ihre Albanisch sprechenden Nachbarn aus Kosovo zu vertreiben (»Hufeisen-Plan«), und hätten schon viele von ihnen massakriert. Es stimmte eher das Gegenteil: Albanische Faschisten, Nachfahren der albanischen SS-Division »Skanderbeg«, die im Zweiten Weltkrieg die Großdeutsche Wehrmacht gegen die Serben unterstützt hatte, terrorisierten die serbischen Nachbarn, und die ersten, die sie vertrieben, waren Juden und Roma. Neuerdings kommen aber auch viele albanische Kosovaren nach Deutschland, denn die wirtschaftliche Lage in Kosovo hat sich durch »ethnische Säuberung« nicht gebessert.
Im südlichen Kosovo – Hauptstadt dieser Region ist Prizren – sind nach wie vor Einheiten der Bundeswehr stationiert. Sie sollen dort für Ruhe sorgen. Unter ihrer Aufsicht setzten im März 2003 albanische Faschisten in Prizren das Serbenviertel in Brand; kein Haus blieb verschont. Einzige Reaktion der deutschen Soldaten: Sie schafften die Serben weg, halfen ihnen, ihre Heimat zu verlassen.
Bei einem späteren Besuch in Prizren erhielten die Fotografin Gabriele Senft, der Schauspieler und Gewerkschafter Rolf Becker und ich am Wachposten der Bundeswehr oberhalb des früheren Serbenviertels die Auskunft, in der ganzen Region sei Ruhe eingekehrt, denn hier gebe es keine Serben mehr – außer einzelne, die mit Albanern verheiratet seien (s. Ossietzky 15/2007). Serbenfrei – das war wohl das Kriegsziel gewesen.
Früher, in Titos Zeiten, hatten die vielen Völkerschaften im Kosovo und im ganzen ehemaligen Jugoslawien im wesentlichen friedlich und auskömmlich zusammengelebt. Auch heute könnte es ihnen allen besser gehen, wenn nicht die Westliche Wertegemeinschaft unter Führung der USA und der BRD Separatismus und Bürgerkriege angeheizt und mit Bombardements aus 15 Kilometern Höhe grauenhafte Zerstörung hinterlassen hätte. Der Beschuß mit Uran-Bomben und die Zertrümmerung von Chemiefabriken bedrohen auch noch künftige Generationen. Was die Menschen aller Völkerschaften auf dem Balkan hauptsächlich brauchen – dringlicher noch als Gelder für den Wiederaufbau, die schnell auf dem grauen Markt zerrinnen –, sind die Rückkehr zu freiem Handel und Wandel untereinander und die Gründung einer Wirtschafts- und Sozialunion, also die Überwindung der Teile-und-herrsche-Politik, mit der Deutschland dort seit mehr als einem Jahrhundert Unheil anrichtet, inzwischen gefolgt von den USA. Die US-Militärbasis »Bondsteel« ist die größte Investition, die es im angeblich unabhängigen, aber immer noch von Kommissaren der Westlichen Wertegemeinschaft regierten Kosovo zu bestaunen gibt.
Bombenterror aus dem Westen und von dort angeheizter Bürgerkrieg haben inzwischen auch Irak, Libyen und Syrien arm gemacht, viele Hunderttausend Einwohner getötet, etliche Millionen in die Flucht getrieben. Auch die Schwarz-Afrikaner, die von Libyen nach Italien und weiter nach Deutschland zu gelangen hoffen und dann im Mittelmeer ertrinken, sind Opfer des von der Westlichen Wertegemeinschaft betriebenen und bejubelten gewaltsamen regime change in Tripolis; Gaddafi hatte ihnen den Zugang in sein aufstrebendes, damals reiches Land geöffnet. Jetzt herrscht in Libyen wie in anderen arabischen Ländern schon jahrelang Bürgerkrieg, moralisch munitioniert von Predigern der jeweiligen Religionsgemeinschaften. Und vieles wiederholt sich in der Ukraine.
Gegen die Intervention der Westlichen Wertegemeinschaft in Jugoslawien engagierte sich in den 1990er Jahren als einer der ersten der österreichische Dichter Peter Handke. Was er damals schrieb – immer im Bewußtsein der Verbrechen der Großdeutschen Wehrmacht in Jugoslawien –, stimmte Wort für Wort. Um so gehässiger reagierten Christ- und Freidemokraten, vor allem aber die regierenden Sozialdemokraten und Grünen. Im Stadtrat von Düsseldorf brachten sie es soweit, daß Handke auf den ihm von einer unabhängigen Jury zugesprochenen, mit 50.000 Euro dotierten Heinrich-Heine-Preis verzichtete. Daraufhin sammelten die Schauspielerin Käthe Reichel, ihr Kollege Rolf Becker und ich Geld für einen alternativen Berliner Heinrich-Heine-Preis, und es gelang, die gleiche Summe zusammenzubringen: 50.000 Euro für Handke, der sie aber nicht für sich annehmen mochte, sondern für die standhaften Menschen in Velika Hoča, einer serbischen Enklave im Kosovo. Unvergeßlich der Ostersonntagmorgen mit den Wolken aus Kirschblüten vor tiefblauem Himmel, als er das Geld dem Bürgermeister der rings von NATO-Stacheldraht umsperrten Gemeinde überreichte.
Ich erinnere daran, weil Handke kürzlich wieder Velika Hoča besuchte und nochmals 50.000 Euro überbrachte: für den Bau eines Schwimmbades. Norwegen hatte den Dichter mit dem Ibsen-Preis (500.000 norwegische Kronen = 280.000 Euro) geehrt, aber wegen der Pöbeleien, denen der Dichter auch im Lande des sozialdemokratischen NATO-Generalsekretärs ausgesetzt war, reichte er den weitaus größten Teil des Preisgeldes zurück. Danke, Peter Handke.