Dunkelheit. Ein schriller Ton durchbricht die Stille, schreckt auf. Rauch, aus dem sich eine große schwarze Gestalt herausschält wie ein böser Geist – durch eine Scheibe vom Publikum getrennt. Seine Hände versuchen sich festzukrallen am Glas. Er brüllt Unverständliches. Bässe vibrieren im Bauch. Eine kleine Tänzerin im hochgeschürzten weißen Kleid, besonders winzig neben dem Riesen, windet sich am Boden. Wir stecken in einem bösen Traum. Dann – überraschend: Glockenklang. Und, war es der Große Schwarze, der die Worte artikulierte: »Abraham, Isaak?« Kein dunkler Zauber – Christentum? Opfer, Frühlingsopfer nannte es sich: Menschen-Opfer.
Aber was bedeutet der kryptische Titel: »iTMOi« des Stücks, das der britische Choreograph Akram Khan mit seiner Company auf Kampnagel in Hamburg präsentierte? Es ist die Abkürzung von: »In the mind of Igor«, was auch einer Erläuterung bedarf. Im Sinne von Igor? Akram Khan dachte an Strawinsky, an sein Ballett: »Le sacre du printemps«, ein Stück, das schon viele zu Neuinterpretationen reizte. Hier wird auf die Musik Strawinskys verzichtet. Drei zeitgenössische Komponisten schufen die Grundlage für dieses faszinierende Tanz-Theater. Eine Mischung aus westlicher und östlicher Musik, stark rhythmusbetont, aufregend. Ein- oder zweimal scheint ganz kurz ein Motiv aus »Sacre« auf. Der Choreograph kann (oder will) seine indischen Wurzeln nicht verleugnen. Er studierte den klassischen indischen Kathak-Tanz. Der Einfluß des 500 Jahre alten südindischen Kathakali-Tanztheaters ist ebenso zu spüren, die Bemalung der Gesichter, die Gebärdensprache der Hände (Mudras) – ganz anders als zu Strawinskys Lebzeiten das Ballett inszeniert wurde. Obwohl die Musik und die Choreographie Vaslaw Nijinskys 1913 revolutionär waren und einen Skandal hervorriefen.
Bilder aus dem heidnischen Rußland, so der Untertitel des »Sacre«. Strawinskys Musik kennt keine Glocken. Nicht wie bei Mussorgskys »Eine Nacht auf dem Kahlen Berge« – dort macht die christliche Glocke dem »Hexensabbat« ein Ende. Inspiriert wurde Mussorgsky durch Berlioz` »Phantastische Sinfonie«. Berlioz 1851: »Die Chinesen und die Inder würden eine der unseren ähnliche Musik haben, wenn sie überhaupt eine besäßen.« Aber, so glaubte er, sie »stecken noch in einer kindlichen Unwissenheit befangen, in der sich kaum vage Ansätze zu einem Gestaltungswillen entdecken lassen.« Die Musik der »Orientalen« sei »Katzenmusik«, meinte Hector Berlioz. Strawinsky und sein Bühnen- und Kostümbildner Nicolai Roerich (der indische und sibirische Studien betrieben hatte) wollten ein Ballett aus der »heidnischen« Vorzeit schaffen, in das auch schamanistische Klänge einfließen sollten. Strawinsky gab später Nijinsky, der als Tänzer ein Star, aber als Choreograph ein Neuling war, die Schuld an dem Aufruhr bei der Uraufführung des »Sacre«. Die Tänzer bewegten sich anders als beim klassischen Ballett: alles nach innen gekehrt, die Füße, die Arme. Das und die groben Bauernkostüme wirkten unelegant auf das mondäne, herausgeputzte Publikum. Dazu die aufwühlende Musik. Das war zu viel.
Zurück zu Akram Khan und seiner elfköpfigen Truppe. Hinten aus dem Dunkel erscheint eine Tänzerin in weißem Reifrock, unwirklich wie eine Puppe. Die Brust nur halb bedeckt, das Gesicht weiß bemalt und auf dem Kopf ein Gebilde wie aus Spitze, sehr starr. Sie kommt langsam nach vorn, als hätte sie Rollen. Künstlich. Unnahbar. Ein Automat ohne Gefühlsregungen, so scheint es. Die Gegenfigur zum Großen Schwarzen, der expressiv tanzt. Die Musik, mal wild, mal sanft, sogar japanisch anmutend – eine Flöte, europäisch. Irgendwann streut die Große Weiße ein Zaubermehl über das kleine weiße Mädchen, das vor ihr kniet. Segnung, oder um es zu kennzeichnen als auserwählt, das Opfer zu sein?
Ein Tänzer im violetten Rock kommt dazu, gräbt sich in das weiße Pulver. Will er sie retten, für sie leiden, ihr Los auf sich nehmen? Er verschwindet unter dem Reifrock der weißen Dame – wo er verwandelt wird. In die Musik mischt sich immer wieder die Glocke. Eine Warnung oder christliche Verheißung? Das Wesen, das hervorkriecht aus dem Rock wie eine weiße Wand – es ist ein Tiermensch geworden mit Fellbrust, animalisch. Es ist fremd, man kann ihm nicht trauen. Die Tänzer, die um ihn herumstehen, wechseln in einen Stampftanz. Für sie ist er der Andere. Sie beginnen, ihn mit Seilen zu attackieren, die sie über ihn werfen. Es ist wie Folter. Er in der Mitte zwischen einem grausamen Seil-Tanz: geschlagen, geschleift, stranguliert. Alle machen mit. Nicht die weiße Automaten-Frau. Als würde sie die Tänzerinnen hypnotisieren. Sprechgesang. Dann: eine einfache Melodie wiederholt sich. Dann eine Stille, die keine ist, das Geräusch einer Schallplatte, die sich unendlich dreht, keiner greift ein.
Noch eine Tier-Figur ist plötzlich da, fast nackt, mit zwei silbrig glänzenden Hörnern – wie Riesenpenisse. Sie bewegt sich am Boden – barfuß wie alle hier. Ein Faun? Dann ein zweiter Reifrock, weniger steif, in schwarz. Ein Tänzer, der sich auch an Tieren orientiert. Er läuft wie ein Affe – seitlich – über die Bühne, schlägt Rad. Das rote Innenleben seines Rockes leuchtet auf. Ein Tanz der Füße in der Luft. Bewundernswert – aber ich verstehe nicht seine Funktion.
Das kleine Mädchen, das weiß, daß es Opfer sein soll – es tanzt um sein Leben, vom Licht herausgehoben, wie ausgeschnitten. Sein Tod, vorherbestimmt oder ausgelost – heidnischer Brauch? Abraham und Isaak hatte der Große Schwarze gemurmelt. Ihr Tanz wandelt sich, sie wirkt unmerklich wie befreit, ein Kind, unschuldig, losgelöst von dunkler Zauberei. Wollte Akram Khan das? Befreit durch die Glocke? Am Schluß bewegt sich ein Paar aufeinander zu. Am Boden kommt es sich näher. Das Tier mit den Hörnern, der Faun, ist immer dabei, die Macht, die Menschen zueinander zwingt und neues Leben schafft.
Akram Khan hat sich weit entfernt von Strawinskys »Sacre«, dennoch – auch durch die atemberaubende Kunst seiner Truppe – ein wunderbar märchenhaftes Traumgebilde geschaffen, das aus sich selbst heraus wirkt. Ohne daß alles verstanden werden kann und muß.